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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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Bären, steckt ihn in die Tüte und geht aus dem Zimmer.
    Sylvie und Jonathan warten vor dem Krankenhaus auf ihn.
    Sie haben mit einem Flummi gespielt.
    »Alles in Ordnung?«, fragt Sylvie. »Du siehst
so bleich aus.«
    [671]  Es gibt kein Taxi.
    Sie gehen zum Bahnhof.
    Jonathan hat Durst, sie setzen sich in ein Bistro. Das Kind will kalten
Kakao.
    Oberstein geht auf die Herrentoilette.
    Die Toilette ist eng.
    Er pinkelt.
    In der Hand hält er die Plastiktüte.
    Er sinkt auf den Boden. Die Fliesen sind nass. Ihm ist es egal.
    Oberstein kniet, den Kopf auf der Plastiktüte.
    Jemand klopft an die Tür.
    Oberstein holt den Bären aus der Tüte. Die gleichen Augen, das gleiche
Fell. Wie Meneer Bär.
    »Meneer Bär«, sagt er. »Was machst du hier?«
    Das Spielen ist ihm zur Qual geworden, er kann sich nicht vorstellen,
dass sich das je noch mal ändert.
    »Meneer Bär«, sagt er. »Ich flehe dich an.
Mach, dass ich vom Erdboden verschwinde.«
    43
    Endlich hat Lea ihn an den Hörer bekommen. »Du bist so still.
Alles in Ordnung bei dir?«, fragt sie.
    »Ja«, antwortet Roland. »Und bei dir?«
    »Ich wollte dich was fragen.«
    »Frag nur«, sagt er.
    [672]  »Ich finde, Gabe ist jetzt alt genug, jetzt
muss ich es ihm erzählen.«
    »Was?«
    »Was seine Mutter tut. Dass sie Expertin für Rudolf Höß ist. Er fängt
an, mir Fragen zu stellen. Aber ich weiß nicht, wie ich ihm antworten soll. Ich
dachte, vielleicht hast du eine Idee.«
    »Ich?«
    »Gabe weiß noch gar nichts über den Holocaust, nicht mal, dass es so
was wie Völkermord gibt, aber in letzter Zeit fragt er immer: ›Was machst du den
ganzen Tag, Mama?‹«
    Eine Pause entsteht.
    Gestern Abend war der Taxifahrer das erste Mal zum Essen bei ihr. Es
gab Lammkotelett. Als er fort war, hat sie sich hungrig über die Knochen auf seinem
Teller hergemacht.
    »Bist du noch da, Roland?«, fragt sie.
    »Ja, ich bin noch da. Vielleicht musst du Gabe erklären, dass es mal
einen Mann gab, der Rudolf Höß hieß und Pferdenarr war, und dass seine Mama alles
über ihn weiß. Und dass der Mann dann Direktor einer riesigen Fabrik wurde, wo Menschen
geschlachtet wurden. – Höß war doch Pferdeliebhaber?«
    »Mit sieben, da bekam er sein Pony namens Hans. In das war er regelrecht
verliebt. Aber wie erkläre ich Gabe, was Massenmord ist?«
    »Sag ihm einfach, was es bedeutet.«
    »Und wie geht’s meinem Großvater?«
    »Der lebt noch. Nach meinen letzten Informationen zumindest.«
    [673]  »Ich weiß, dass du mich liebst«, sagt Lea.
    »Ich weiß«, antwortet er. »Ich weiß, dass
du das weißt.«
    44
    Wieder hatte er keine Zeit für sie. Eine halbe Stunde, mehr
nicht. Die Hälfte der Himbeeren hat er liegen lassen.
Nie hat er Zeit für sie gehabt.
    »War es schön für dich, dass ich ein paar Monate in den Niederlanden
war?«, fragt er.
    »Schön ist nicht das richtige Wort«, antwortet seine Mutter.
    Sie wirft einen Blick auf den dementen Mann
bei ihr am Tisch.
    »Die Nachbarin hat mir die Zeitungsartikel gezeigt, und im Fernsehen
hab ich auch was darüber gesehen. Du sollst eine Studentin in den Tod getrieben
haben. Ehrlich gesagt erstaunt es mich eher, dass es nur eine ist. Bei mir hast
du das schon in frühester Kindheit versucht. Ein Wunder, dass du das immer noch
nicht geschafft hast!«
    Ihr Sohn steht auf.
    »Was wirst du mit ihm machen?« Er zeigt auf den Mann am Tisch.
    »Lass das mal meine Sorge sein«, antwortet sie. »Ich habe wenigstens
noch Ehrfurcht vor dem Leben.«
    Sie umarmt ihren Sohn, und er umarmt sie.
    »Wenn du wenigstens Professor wärst«, sagt sie, »dann [674]  könnte ich über
das mit der Studentin ja noch hinwegsehen.«
    45
    Fast zwei Stunden haben Gwennys Eltern an ihrem Bett gesessen.
    Vor allem ihre Mutter hat das Reden übernommen.
    Ihr Vater sagt nicht viel.
    In Kürze wird sie in ein anderes Krankenhaus verlegt.
    Mit einem Ruck steht ihr Vater auf. »Wir müssen mal wieder«, sagt er.
»Gleich fängt die Champions League an.«
    46
    Das Notebook steckt schon in der Tasche.
    Nur noch ein wenig Kleidung und ein paar letzte Bücher liegen im Zimmer
herum. Er ist fast fertig.
    Er nimmt das Buch von Stefan Zweig. Er zögert einen Moment. Es ist das
Einzige, was ihn an Gwendolyne erinnert. Er schlägt das Buch auf, liest ein paar
Sätze. Reines Gift. Bestenfalls Zeitverschwendung.
    Er legt es auf den Stapel mit Büchern, die er hierlassen will.
    [675]  Paul Steinberg. Er blättert darin, legt es in den Koffer.
    Tadeusz Borowski. Er schlägt
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