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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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eine wunderbare Linie 4 haben, Prag, Danzig, das Ruhrgebiet und Halle an der Saale habe ich nicht geschafft, und in St. Gallen, Köln und Graz war ich zu kurz, als dass es eine gute Geschichte ergeben hätte.
    Der Zufall, kann ich nach fast zehn Jahren Linie 4 sagen, ist der beste Weg, fremde Orte kennenzulernen.

Ich bin außer Dienst
    Aix-en-Provence, Frankreich
    A ix-en-Provence geht der Ruf voraus, schön zu sein. Ich stellte mir vor, dass die Linie 4 dort eine Straßenbahn ist, die durch die Altstadt fährt, durch Straßen, die rechts und links von Platanen gesäumt sind. Alte Wagen ohne Werbung, wo die Frauen auf den offenen Plattformen ihre Hüte festhalten müssen und die Gefahr besteht, dass sie beim Aussteigen mit ihren Pfennigabsätzen in die Gitter der Stufen geraten. Frauen, wie von Cézanne gemalt, und ein Aix-en-Provence voller Verheißungen wie das Baudelaire-Gedicht L’invitation au voyage (aber ganz sicher nicht in der Nachdichtung Stefan Georges): »Mon enfant, ma sœur, / Songe à la douceur / D’aller là-bas vivre ensemble! / Aimer à loisir, / Aimer et mourir / Au pays qui te ressemble! / Les soleils mouillés / De ces ciels brouillés / Pour mon esprit ont les charmes / Si mystérieux / De tes traîtres yeux, / Brillant à travers leurs larmes.« Man braucht den Sinn nicht zu verstehen, der Klang allein verzaubert. Er ist eine Einladung zur Reise.
    Aber natürlich gibt es dieses Aix-en-Provence in Wirklichkeit nicht und auch keine Straßenbahn in der Stadt, sieht man mal von einer Touristenbimmelbahn ab, die zwar Tramway heißt, aber ohne Schienen auskommt. Dafür gibt es vierundzwanzig Buslinien, die die engen Straßen der Altstadt meiden. Die Altstadt wird von Minibuslinien durchzogen, die Mini 1, Mini 2 und Mini 3 genannt werden. Mini 4 gibt es nicht. Dafür eine Buslinie 4, die in La Mayanelle im Nordwesten der Stadt beginnt und über die Rotonde in der Altstadt bis zum Fuß des Sainte Victoire fährt. Fast alle Buslinien, zwanzig der vierundzwanzig, fahren über die Rotonde, den zentralen Platz der Altstadt. In der Mitte befindet sich ein hundertfünfzig Jahre alter Brunnen mit drei Figuren, die die Justiz, die Landwirtschaft und die schönen Künste verkörpern. Jede der Figuren schaut in eine andere Richtung. Im Sekundentakt halten die Busse vor der zentralen Touristeninformation der Stadt. Es sind auch solche, die im Display »Ich bin außer Dienst« stehen haben, was menschlich klingt. Die Wartenden sitzen indes auf den Pollern, die Autofahrer daran hindern sollen, auf der Rotonde unbefugt zu parken. »Dieser Platz wird videoüberwacht.«

© Arwed Messmer

Das Wetter in Aix-en-Provence ist auch in kalten Jahreszeiten mild. Die Frauen tragen schon im Januar ihre Sonnenbrillen auf den verkehrsberuhigten Straßen der Altstadt spazieren, und die Cafés und Restaurants des Cours Mirabeau, der von der Rotonde abgeht, haben die Stühle rausgestellt. Auch wenn die Platanen noch kahl sind und ein diffuses, aber warmes Mittelmeerlicht durch die Zweige fällt – der Ginster blüht schon an den Rändern der ehemaligen Streichholzfabrik aus dem neunzehnten Jahrhundert, in der ein Kulturzentrum untergebracht ist, die Cité du Livre, mit Bibliothek und Ausstellungsraum, Agora und Kantine. Die Nachlässe der Literaturnobelpreisträger Saint-John Perses und Albert Camus’ werden hier verwahrt. Am Eingang der Bibliothek steht das Buch Der Kleine Prinz, höher als das Gebäude selbst. Eigentlich könnte man den ganzen Tag hier verbringen. Die Kantine im Kulturzentrum scheint wie eine Kulisse aus einem dieser französischen Schwarz-Weiß-Filme, in denen die Beziehungen melancholisch anfangen und auch so enden, begleitet von gutem Essen und einem Rotwein, der in den Gläsern funkelt und zu schnell und zu viel genossen wird. Nach einem 2009 von dem damaligen französischen Präsident Sarkozy erlassenen Gesetz ist nicht mehr der Trinker allein für sein Tun verantwortlich, sondern auch der, der ihm den Alkohol ausschenkt. Hindert der Wirt den Trinker nicht daran, in sein Auto zu steigen, und holt er nicht die Polizei, wenn der, der zu viel getrunken hat, es doch tut, wird er bei einem Unfall mit zur Verantwortung gezogen. Man nehme also den Bus, gleich an der Gare Routière, dem Busbahnhof von Aix. Auch die Linie 4 hält hier. Wenn sie von La Mayanelle kommt, hat sie schon neunzehn Stationen hinter sich gebracht. Von der Endhaltestelle im Nordosten, wo es ländlich ist, geht es durch
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