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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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die alte Strombrücke auf den Werder war allerdings eine Pferdebahn. Das zweite Pferdebahnunternehmen der Stadt, eine englische Gesellschaft aus Birmingham, begann im August 1884 mit dem Bau der lange geforderten West-Ost-Strecke über die Elbe. Das Unternehmen nannte sich Magdeburg Tramway Company, später Magdeburger Trambahn AG . In den warmen Monaten fuhr man mit Sommerwagen ohne Mittelgang, sodass die Schaffner auf umlaufenden Trittbrettern kassieren mussten. Das wurde erst abgeschafft, als durch den Ersten Weltkrieg Frauen als Schaffner beschäftigt wurden und man ihnen nicht zumuten wollte, mit den vorgeschriebenen langen Röcken auf den Trittbrettern herumzuklettern. Da war die Straßenbahn aber schon fünfzehn Jahre elektrisch und die beiden Straßenbahnunternehmen zur Magdeburger Straßeneisenbahngesellschaft zusammengefasst. Anfangs gab es neben der Nummer noch eine rote Scheibe mit schwarzem Kreuz, weil sich Nummern aber leichter merken ließen, setzten sie sich durch. Die Strecke in dem 1910 eingemeindeten ostelbischen Stadtteil Cracau, heute Endhaltestelle der 4, kam erst 1928 dazu. Es war damals die 15. Eigentlich hätten sie die 13 bekommen sollen, aber die Cracauer lehnten eine Pechzahl für ihre Straßenbahnlinie ab. Es fiel ihnen aber erst am Eröffnungstag auf, dass es der 13. November war. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die Endhaltestelle auf dem Werder aufgegeben, aber noch viele Jahre gab es Schienen im Pflaster, die darauf hindeuteten, dass auf der Mittelstraße einmal eine Straßenbahn gefahren war. Seitdem überquert die Linie 4 den Werder nur noch an seiner schmalsten Stelle.
    1945 war die Innenstadt von Magdeburg fast vollständig zerstört, die Elbbrücken gesprengt. Noch lange Zeit stand ein ausgebrannter Straßenbahnwagen am Ufer. Nach der Reparatur der Brücken und der Beseitigung der Trümmer in den Nachkriegsjahren fuhr die 4 von Cracau bis zum Schlachthof. Da Letzteres aber nicht so schön klang, nannte man die Endhaltestelle im Westen Hermann-Gieseler-Halle.
    Die meiste Zeit des Jahres war es dunkel, wenn wir sonntags von meinen Großeltern nach Hause fuhren. Und immer war an der Haltestelle Stadt Prag die Leuchtreklame für die staatliche Versicherung zu sehen, die ich wohl nie vergessen werde: »Versichert, gesichert«, blinkte sie, und die Kleinfamilie unter dem Dach der Versicherung blinkte mit. Als ich vor einigen Jahren Heiligabend, um das Warten auf den Weihnachtsmann abzukürzen, mit meinem Neffen die Linie 4 von einem Ende der Stadt zum anderen nahm, war die Reklame mitsamt der Versicherung längst verschwunden. Die Gleise zum Schlachthof waren abgebaut, die Linie 4 ging nun ins Plattenbaugebiet Olvenstedt. Das wollte ich mir ansehen. Wir nahmen die Videokamera mit und dokumentierten unsere Fahrt. Ich erzählte meinem Neffen Geschichten entlang der Linie 4, zum Beispiel die von der aufgedunsenen Wasserleiche in der Alten Elbe, die wir beim Taubenfüttern auf dem Weg vom Hort nach Hause entdeckt hatten, und die, warum die Sandsteinputten der Anna-Ebert-Brücke alle, bis auf den Löwen, im Wasser der Alten Elbe liegen.
    Eine Haltestelle weiter, auf der ostelbischen Seite der Strecke, fiel mir angesichts der einmal Karl Marx genannten Schule ein, dass ich die seltsame und unwillkürliche Angewohnheit habe, Schauplätze von Büchern an Stellen zu verorten, die zu meinen persönlichen Erinnerungen gehören. Ein Teil der Mecklenburger Jahrestage von Uwe Johnson spielt in meinem Kopf auf dem Schulhof der Karl-Marx-Schule. Armer Johnson – das Ensemble ist scheußlich. Es wurde in der Nazizeit aus roten Klinkersteinen in Anlehnung an die Burgen in Mitteldeutschland gebaut. In der Mitte, von Mauern umgeben, ein abgesenkter Thingplatz. Hierhin wurden immer meine Mitschüler strafversetzt, wenn sie Hakenkreuze in die Schulbänke geritzt hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in dieser Schule davon geheilt wurden.
    Auf dem Rückweg kamen mein Neffe und ich über die Strombrücke, die Ernst-Reuter-Allee am Hauptbahnhof entlang und unter der Westtangente durch bis zur Endhaltestelle der 4 in Neu-Olvenstedt, wo sämtliche Jungs, die einstiegen, uniformiert waren: Glatze, Lonsdale, Springerstiefel. An der Wendeschleife standen Plattenbauruinen mit leeren Fensterhöhlen im diesigen Nebel. Die Bahn verschwand und kam so schnell nicht wieder. Mein Neffe sieht auf dem Video so traurig aus, als würde er auf den Kindernotdienst warten. Die Aufnahmezeit endet bei 1 h 08 min.
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