Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
Einfamilienhaussiedlungen und an gut bewachten Landsitzen vorbei, deren Tore sich lautlos und von unsichtbarer Hand öffnen, wenn jemand eintrifft, der befugt ist, wodurch auch immer. Zwischen Land und Altstadt kommen die Einwandererviertel, Häuser aus Betonfertigteilen, die nicht weniger trist sind als solche in Riga, Minsk oder Marzahn. Auch das Haus der Fondation Vasarely liegt auf dem Weg, dessen geometrische Fassadenmuster sich in dem Wasserbecken vor dem Gebäude spiegeln. Dort sind großformatige Bilder des ungarischstämmigen, aber lange in Frankreich beheimateten Malers Victor Vasarely ausgestellt.
    An den Haltestellen der Gare Routière ist es voll. Hier fahren die Überlandbusse nach Marseille ab. Sie halten, man steigt zu. Um mit den Stadtbussen zu fahren, muss man laut Beförderungsanordnung des örtlichen Busunternehmens A IXen BUS die Hand heben, wenn der gewünschte Stadtbus sich der Haltestelle nähert, denn der Halt ist fakultativ. Die junge Frau neben mir tritt auf die Straße und winkt, ein Taxi bremst abrupt, beinahe hätte es eine Karambolage mit dem direkt dahinter fahrenden Bus gegeben. Die Frau lacht und steigt in das größere Fahrzeug. Beim Fahrer lässt sich ein Fahrschein für 1 Euro erwerben, für westeuropäische Verhältnisse ein Spottpreis. Die meisten haben ein Abonnement. Ich besteige hinter der jungen Frau den Bus, der selbst an einem Samstagmittag voll ist.
    Mehr als ein Viertel der hundertvierzigtausend Einwohner sind Studenten, während des Semesters kommen noch die abenteuerlustigeren, die in Marseille wohnen und jeden Morgen mit dem Bus nach Aix fahren, hinzu, die bequemeren sitzen in Decken gehüllt im Café und widmen sich ihren Hausaufgaben.
    Bei nur oberflächlicher Betrachtung, die über die Altstadt nicht hinauskommt, macht die Stadt den Eindruck, als gäbe es keine Probleme, als wäre das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen harmonisch. Selbst die Obdachlosen sehen aus, wie vom Stadtmarketing bestellt. Ihr Platz ist an der Rotonde neben Cézanne, besser gesagt, einer ziemlich realistisch anmutenden Skulptur des Künstlers mit Stock, Hut und Rauschebart, auf dem Rücken die Malutensilien. Manche der Clochards sehen aus wie Cézanne (oder Cézanne wie ein Clochard). Er erhebt sich nicht über sie, sondern steht auf einem niedrigen Sockel. Abends kommt der Bus der Treberhilfe und versorgt die Obdachlosen mit dem Nötigsten.
    Das Tourismuskonzept von Aix ist ganz auf den Maler ausgerichtet. Die Stadt hat Glück gehabt, dass ihr berühmtester Sohn Sätze wie den folgenden hinterließ: »Als ich in Aix war, glaubte ich, ich wäre woanders glücklicher. Jetzt, wo ich hier bin, vermisse ich Aix … Wenn man dort geboren ist, ist nichts zu machen: Man hat keinen Spaß mehr an etwas anderem.« Das ist natürlich viel besser für das Stadtmarketing als der Satz, den der Dichter Karl Leberecht Immermann im Jahr 1826 über seine Heimatstadt Magdeburg schrieb: »Wenn man die Dichtung glücklich ausrotten wollte, so müsste man die Dichter nach Magdeburg senden. Wir haben hier nur Kanonen, Beamte und Krämer, und die Fantasie fehlt in der Seelenliste gänzlich.« Trotzdem hat Immermann eine kleine schmale Straße in Magdeburg bekommen. In Aix ist alles Cézanne. Kein Ort, wo er nicht war, um seinen Vater zu besuchen oder seine Staffelei aufzustellen. Kein Faltblatt, auf dem nicht er oder eines seiner Gemälde abgebildet ist. Mehrere Bushaltestellen tragen seinen Namen. An ihm kommt man nicht vorbei, weil er immer schon da gewesen ist, und wenn es nur ein Schild an einem Café ist, das anzeigt, dass er dort gelegentlich einkehrte. Durch die ganze Stadt ziehen sich Cézanne-Pfade für Touristen, einer der Wege, der im Stadtplan, den das Tourismusbüro bereithält, rot eingezeichnete zum Steinbruch von Bibémus, deckt sich fast mit der östlichen Hälfte der Linie 4.
    In der Nachmittagsrushhour kommt der Bus in der Innenstadt nur langsam voran. Der Verkehr wird auch deshalb aufgehalten, weil in Aix neue Busse eingesetzt werden, deren Türsystem Ingenieure entwickelt haben müssen, die offenbar nie öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Wenn jemand in der Lichtschranke steht, schließt die Tür nicht, und der Bus ist blockiert. In Stoßzeiten steht aber immer jemand dort, der erst vom Fahrer gebeten werden muss, zurückzutreten. Eine Frau mit wettergegerbtem Gesicht steigt zu. Ihrer Kleidung aus grobem, an manchen Stellen schon leicht dünn gewordenem Leinen nach zu urteilen, scheint
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher