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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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meine Eltern, ob wir umstiegen in die 3 oder bis zur Arndtstraße in der Bahn blieben, um den Rest zu laufen. Meistens stiegen wir um. Auf dem Rückweg hatten wir manchmal das Glück, dass eine 4 aus dem Depot an der Diesdorfer Straße kam und in Richtung Cracau fuhr. Die Wartezeit vertrieben wir uns vor den Auslagen von Schreiber & Sundermann, deren beste Zeiten auf dem Breiten Weg im Feuersturm des 16. Januar 1945 untergegangen waren. Nebenan war die Kneipe mit dem schönsten Namen unter allen Etablissements dieser Art: Zum elektrischen Funken. Manchmal passierte es wirklich, dass der Bügel einer Bahn beim Einbiegen auf die Oberleitung der Hauptstrecke kleine zischende Funken versprühte. Funkenkutsche war dann auch lange der Spitzname für die Elektrische.
    In der 4 ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich eines Tages tot sein werde. Nicht mehr da, einfach weg, vom Erdboden verschwunden. Dass das Leben endlich ist. Es gab keinen Anlass. Niemanden, der unter die Gleise gekommen war, es drängte sich mir einfach so auf, erschütterte mich und blieb da, für immer, wenn auch die meiste Zeit verdrängt. Aber jedes Mal, wenn mir wieder die Endlichkeit meines Lebens in den Sinn kommt, bin ich das kleine Mädchen, das in der Straßenbahn sitzt und von Dämonen überwältigt wird, die mein Vater damals mit einem Satz wegwischte: »Was musst du an den Tod denken, du hast dein ganzes Leben noch vor dir.« Ich saß gerne in der Straßenbahn und schaute aus dem Fenster. Meine Mutter dagegen war eher genervt. Zu eng, zu laut, zu langsam, zu unpünktlich. »Die eine Haltestelle kann man auch laufen«, sagte sie, wenn meine Schwester und ich nach den Einkäufen in der Stadt, so hieß die Ansammlung von Häusern und enttrümmerten Flächen auf der Westseite der Elbe, mit der 4 über die Strombrücke auf den Werder fahren wollten. Aber unsere Mutter blieb eisern. Sie kaufte auf dem Alten Markt im Lukullusladen für jede von uns eine Scheibe Mortadella als Wegzehrung, und dann mussten wir über die zugige Elbbrücke zurück nach Hause laufen, egal, welches Wetter war. Kurz vor dem Ziel begegnete uns immer die Straßenbahn. Und jedes Mal sagte unsere Mutter: »Seht ihr, wir sind genauso schnell und müssen nichts bezahlen.« Ich liebte es, 15 Pfennige in die Zahlbox zu stecken und zu beobachten, wie das Geld nach zweifacher Betätigung des Hebels im Schacht verschwand und stattdessen ein unansehnlicher grauer Fahrschein darauf wartete, abgerissen zu werden. Immer mal wieder finde ich beim Stöbern in meiner Bibliothek einen, der als Lesezeichen in einem Buch steckt. Das säurehaltige Papier hinterlässt einen Schatten auf den Buchseiten. 15 Pfennige kostete eine Straßenbahnfahrt in Magdeburg von 1918 bis 1990, abgesehen von den 200 Milliarden im Inflationsjahr 1923. Das war auch das Einzige, womit man außerhalb Magdeburgs angeben konnte. Wenn andere im Ferienlager die Vorzüge ihrer Städte und Dörfer priesen, blieb einem selbst nur der Triumph, den billigsten Straßenbahntarif zu haben.
    In meiner Kindheit fuhren auf der Linie 4 Straßenbahnen, die im thüringischen Gotha hergestellt worden waren. Der Triebwagen war hell und hatte freundliche Augen, eine spitze dunkelgrüne Nase und einen Schmollmund. Abends leuchtete er. Die Tatra-Wagen aus Prag dagegen, die ab 1969 die Gotha-Wagen nach und nach ersetzten und so schwer waren, dass man annehmen musste, sie würden sich allmählich in die Straße eingraben und Magdeburg zu einer U-Bahn verhelfen, waren fett und gemütlich mit ihren breiten Gesichtern und dem ständigen Ächzen und Knacken.
    Die allererste elektrische Straßenbahn der Stadt Magdeburg fuhr als Linie 4 ab Juli 1899 von der Olvenstedter Straße über den Alten Markt den Johannisberg hinunter und über die alte Strombrücke auf den Werder, vorbei am Haus meiner Kindheit, über die Mittelstraße bis zum Odeum. Wer kennt heute noch das Odeum? In meiner Kindheit waren all diese versteckten Geschichten des Werder unter einer Menge Treibsand verschüttet. Es muss ungefähr so viel Treibsand gewesen sein, wie sich auf den Grund der Alten Elbe gelegt hatte, bis sie nicht mehr schiffbar war. Der Werder war in meiner Kindheit im Stillstand begriffen, die Häuser zwischen Mittel- und Oststraße warteten auf ihren Abriss. In den obersten Etagen standen Eimer, Schüsseln und Wannen bereit, und bei jedem Regen gaben die Tropfen in den Zimmern ein Konzert, das aus lauter Plings und Plops bestand.
    Die erste Linie über
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