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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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bleiben. Hundert Jahre später war ihre Zeit vorbei, die Industrie wanderte in Billiglohnländer ab. Das Areal hatte seine Funktion verloren.
    An der Tramlinie Zürich West habe ich gelernt, dass die Zürcher zwischen Tram und Bahn unterscheiden. Die Tram fährt innerhalb der Stadtgrenzen, die Bahn darüber hinaus. Die 4 ist also eine Tram. Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter, die in einem der großen Industriebetriebe, bei Maag, Steinfels, Schoeller, Toni-Molkerei, Sulzer-Escher Wyss, in den Wäschereien oder Färbereien beschäftigt waren, benutzten sie täglich. Sie sind es nicht, die heute hier wohnen, auch wenn der Genossenschaftsanteil der Wohnungen siebenunddreißig Prozent beträgt. Es hat viel Streit um die Umwidmung der Industriezone gegeben, die Sozialdemokraten hätten sie am liebsten als solche bewahrt und auf bessere Zeiten gehofft. Aber wenigstens gab der Streit der Stadt Zeit, die Pläne für ein reines Gewerbe- und Dienstleistungsquartier noch einmal zugunsten einer Mischung aus Wohnen und Arbeiten zu revidieren. Jetzt entsteht hier ein ganz neues Stadtviertel. Auch die Kunsthochschule wird in eine alte Joghurtfabrik umziehen.
    Am Escher-Wyss-Platz biegt die Tram nach links unter einen Betonschirm ab, es ist die Hardbrücke, eine wenig ansehnliche Schnellstraße, die man in Zürich eigentlich nicht erwartet. Es könnte eher in Hannover sein, in Halle an der Saale oder Schanghai. In der Zeit, die zwischen Planung und Realisierung des Quartiers vergangen ist, hat man in Schanghai ein ganzes aus Wolkenkratzern bestehendes Stadtviertel errichtet.
    Es gab Pioniere der neuen Nutzung, die waren schon hier, als in der einen oder anderen Halle noch produziert wurde. 2000 zog die Nebenspielstätte Schiffbau in die ehemalige Kesselschmiede der Escher Wyss AG und das Theaterpublikum in die Schmuddelecke der Stadt. Die Verlängerung der 4 um sieben Stationen ist die erste neue Trambahnstrecke seit fünfundzwanzig Jahren. Drei Jahre hat der Bau der 3070 Meter gedauert.
    Die VBZ wirbt auf einem Plakat mit einer Schneekugel für die neue 4. Das beschauliche Städtchen im Inneren wird von einem aggressiven Hochhaus verdrängt, das gleichzeitig die Kuppel der Schneekugel sprengt. Es ist der Prime Tower. Da hinauf fahren wir. Sechzig Meter mit dem Lift und durch die Schneekugel hindurch kann man aus dem Restaurant in der obersten Etage ganz Zürich sehen, das eigentlich bisher gut ohne Hochhäuser ausgekommen ist. Die Alpen sind vom Dunst verschluckt. Unten ist nur noch einziges Gebäude aus der Zeit des Maag-Areals, wo Teile für Zahnradbahnen hergestellt wurden. Karin kennt es gut. Ihre Mutter hat dort gearbeitet, und es macht sie melancholisch, dass alles verschwunden ist zugunsten einer sehr cleanen Welt mit Leuten, die man ohne Weiteres als Yuppies bezeichnen könnte. Auf der anderen Seite der Hardbrücke gibt es im Gerold-Areal noch Reste von Zwischennutzungen, deren Wahrzeichen die neun übereinandergestapelten Überseecontainer sind. Dort ist der Showroom der Firma Freitag untergebracht, die mit Taschen aus recycelten Lkw-Planen bekannt geworden ist. Friedlich nebeneinander existieren Fischhändler, Nachtclubs, ein Wohnhaus der Heilsarmee und Ateliers, dazwischen steht ein Segelboot auf dem Trockenen. Die Mietverträge laufen bald aus, ein Kongresszentrum, das vermutlich niemand braucht, ist an der Stelle geplant. Auch die Tage der Müllverbrennungsanlage nebenan sind gezählt.
    Wieder unten, trinken wir in Les Halles, einer Brasserie mit Bio- und Fahrradladen, auch einer der Pioniere, einen Kaffee. Zwar ist der auch verboten teuer, aber es ist wenigstens nicht alles so schick, rechtwinklig und sauber wie in den anderen Cafés und Restaurants ringsherum.
    Siebentausend Menschen sollen in Zürich West einmal leben, einunddreißigtausend arbeiten. Wenn man die Strecke abfährt, fragt man sich, wo die vielen Arbeitsplätze denn sein sollen. Zu Hause in Heimarbeit? An der Pfingsweidstraße nimmt die Bahn Fahrt auf. Bewegt sie sich in der Stadt meist nur mit höchstens zwanzig Stundenkilometern vorwärts, fährt sie hier fast doppelt so schnell. Angeblich sollen die Bahnen und Busse der Verkehrsbetriebe Zürich pro Tag zwei Mal die Erde umrunden. Es dürfte also gar nicht so viel Aufwand sein, um mit der 4 um die Welt zu fahren. Irgendwann kriegt man die Kilometer auch in Zürich zusammen.
    Rechter Hand liegt eine Brache, einst der Hardturm, das Stadion des Grasshopper Clubs Zürich und einer der Austragungsorte der
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