Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
ein fröhliches »koniec« zu. Das Bild schließt sich. Am Horizont ist die nächste Trabantenstadt zu sehen, vor ihr eine Autobahn und im Vordergrund des Tafelbildes ein weitverzweigter Basar, der neben der Hala Marymoncka anfängt. Eine alte Landfrau hat auf ihrem winzigen Verkaufstisch, einer Kiste, drei Knoblauchknollen ausgelegt. Andere verkaufen ihre letzte Habe. Die Professionelleren bieten auf Camping- oder Tapeziertischen Schnürsenkel, Feuerzeuge, Tulpen oder Nippes an. Für Außenstehende bleibt unklar, ob sich damit ein Lebensunterhalt bestreiten lässt. Zwischen den Verkaufsbuden wanken Betrunkene hin und her, Familien mit Kindern machen ihre Wochenendeinkäufe, und je tiefer man in das Gewirr des Markts gelangt, desto weniger weiß man, in welchem Teil der Welt man sich befindet. Vielleicht werde ich ja in Alexandria wieder heraustreten und dort am Ausgang der 4 begegnen.

Reden wir übers Leben
    Wien, Österreich
    W ürde Harry Lime heute noch im Wiener Prater Riesenrad fahren? Wo eine Fahrt mit dem alten Ding, das sich behäbig um die eigene Achse dreht und alle zehn Meter stehen bleibt, sagenhafte 7,50 Euro kostet? Der Mythos des Dritten Mannes hat seinen Preis. Aber Harry Lime hatte genug Geld mit seinen Geschäften mit gestrecktem Penicillin gemacht, den Eintritt könnte er einfach so aus der Hosentasche hinzählen. Für die mit geringerem Einkommen gibt es seit einiger Zeit das sogenannte Blumenrad zu einem Drittel des Preises. Man hängt etwas luftiger über der Stadt. Bei Wind schwankt die Gondel bedenklich. Neben dem Blumenrad steht der Turbo Boost. Darin lassen sich die Besucher für 8 Euro mit hundert Stundenkilometern zentrifugieren, dass die Schreie nur so aus ihnen herausspritzen und man Angst haben muss, dass die Leute sich übergeben, gerade in dem Moment, wenn man an ihnen vorbeischwebt – als Kutsche neben einer Rakete.
    Ich bin nur durch Zufall hier gelandet. Aber im Prater gewesen zu sein, ohne ein einziges Fahrgeschäft benutzt zu haben – das wäre sträflich. Die Buslinie 4A hat mich hierhergebracht. Sie hat ihre Endhaltestelle kurz vor der Rotundenallee, die in den Prater führt. Ich bin enttäuscht, dass es keine Straßenbahn Nr. 4 in der Straßenbahnstadt Wien gibt. Eine seit 1907 bestehende Linie, die vom Südbahnhof zum Prater führte, wurde schon 1941 wegen mangelnder Frequentierung eingestellt. Stattdessen gibt es seit 1980 eine Autobuslinie 4A vom Karlsplatz bis zur Wittelsbachstraße, die vorwiegend durch Nachkriegsviertel führt. Sie liegen heute träge in der Frühlingssonntagssonne. Das einzige Aufregende auf dieser Wegstrecke scheint das Wort Rasumofskygasse zu sein – oder die Tatsache, dass die 4A im Gegensatz zu vielen anderen Buslinien auch an Sonn- und Feiertagen verkehrt. Das A steht übrigens nicht für Autobus, sondern dafür, dass die Linie von den Wiener Verkehrsbetrieben, Wiener Linien genannt, eingesetzt wird. Für den Weg vom ersten über den dritten bis zur Grenze des zweiten Bezirks braucht der Bus nicht mehr als fünfzehn Minuten.

© Annett Gröschner

Nachdem ich den Nachmittag über häufig allein oder mit nur wenigen anderen Fahrgästen in der 4A gesessen habe, scheint gegen Abend etwas Bewegung in die Stadt zu kommen. Von Haltestelle zu Haltestelle steigen mehr Passagiere zu. Im Bus treffen sich die von der Sonne müden Praterbesucher mit denen, die im ersten Bezirk ins Theater wollen. Von der Rasumofskygasse kommend, biegt er an einem Platz voller Büdchen auf die Landstraßer Hauptstraße ab, wo er fast eine alte Frau anfährt, die gerade auf dem Fußgängerüberweg geht. Sie hat sich sonntagsfein gemacht. Ihr Morbus Bechterew ist so stark, dass nur der Blick auf den Boden möglich ist. Das Kreuz am Hals baumelt kurz über dem Asphalt.
    An der nächsten Haltestelle steigt ein Glatzköpfiger ein, der bis über die Jochbögen tätowiert ist. Nur die linke Wange ist ausgespart. Vielleicht war die Langzeitstrafe abgesessen und sein Lieblingstätowierer blieb im Gefängnis zurück. Sie sollen ja heute aus alten Walkmen ausgebaute Motoren als Antrieb für den Tätowierstift benutzen, was sich positiv auf die Qualität auswirkt. Der Mann im Bus hat sich ein work in progress auf die Glatze stechen lassen. Auf dem Hinterkopf tritt ein Golem aus der Tür und trifft auf einen im Verhältnis zu ihm riesigen Salamander, der sich mitten auf der Stirn sonnt. Letzterer war zuerst da, denn die Farben sind verblasst. Zwischendurch muss der Mann mal eine eher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher