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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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sich, ob eine Mitgliedschaft die wirtschaftliche Lage nicht noch verschlechtern würde. Die Jugendkultur des Scheibenzerkratzens hat sich auch ohne EU -Mitgliedschaft von Alteuropa bis hierher verbreitet.
    Hinter den Häusern überragt eine Sprungschanze die Dächer, die seltsam deplatziert in der Stadt wirkt. An der Stelle, wo die Puławska sich in die Straßen Marszałkowska und Waryńskiego teilt, steht das Europlexcenter, ein gläsernes Einkaufszentrum mit angeschlossenem Kino, das aussieht, als wäre es an dieser Stelle der Stadt zufällig abgeworfen worden wie ein Carepaket. Quer über die Straße rennt eine Gruppe Jugendlicher, Popcorntüten schwenkend, auf die Straßenbahn zu.
    Drei Straßenbahntypen sind auf der Strecke unterwegs: alte, aus den fünfziger Jahren stammende Wagen, tschechische Tatra-Bahnen aus den Siebzigern, die auch in Ostdeutschland dreißig Jahre lang die Hauptlast des Straßenbahnverkehrs trugen, und neue Niederflurbahnen. Wenn die Triebwagen der alten quietschenden Bahnen als Hänger fahren, kann man auf dem Platz des Fahrers sitzen, was sie vor allem bei Kindern begehrt macht, auch bei den jugendlichen Nachtschwärmern. Ein Pickliger stürzt sich sofort auf die Fahrerbucht und lädt eine kichernde Blonde ein, mit ihm mitzufahren. Er reißt das Fenster auf und schreit nach hinten so etwas wie: »Stört’s euch, Frauen?«, und die Frauen, die hinter dem Fahrersitz sitzen, rufen im Chor: »Ja«, worauf der Junge das Fenster sofort schließt. Alle lachen. An der nächsten Haltestelle steigt die Gruppe wieder aus. Inzwischen sind auch die Stehplätze besetzt – es gibt weniger Sitze im Wagen als in anderen Städten.
    Die Marszałkowska ist die Stalinallee von Warschau, und wie alle Stalinalleen der Welt zeichnet sie sich durch eine nicht ortsübliche Breite und wuchtige Häuser aus, in deren Erdgeschosszonen sich zu sozialistischen Zeiten oft Gaststätten befreundeter Länder befanden. Das Restaurant Berlin hat die neuen Zeiten nicht überstanden. Nur die Leuchtreklame blinkt noch ihr »BerlinBerlin«. Hinter den Fensterscheiben werden Elektrogeräte angeboten. An den Wänden der Arkaden sind überlebensgroße Werktätige in Stein gemeißelt. Vor dem ehemaligen Restaurant ist es eine gigantische Hortnerin mit riesigen Brüsten, und man weiß nicht, ob sie das Kind unter sich nun beschützt oder bedroht. Wenige Hundert Meter weiter steht an regenfreien Tagen eine Frau mit ihrem im Rollstuhl sitzenden Kind stundenlang unbeweglich, die eine Hand am Griff des Rollstuhls, die andere hält ein Schild, das ihrer beider finanzielle Notlage schildert. Der Junge hat die Tasche mit dem Geld auf dem Schoß.
    In Warschau kann man dem Kapitalismus bei seinem Übergang von der ursprünglichen Akkumulation zur Marktwirtschaft westeuropäischen Zuschnitts zusehen. Die Kinder derer, die mit unklaren Geschäften reich wurden, sitzen in den amerikanischen Coffeeshops wie dem Green Café am Ende der Marszałkowska, wo der Milchkaffee auch schon Latte Macchiato heißt und die Kanapki wie Ciabatta aussehen und genauso teuer sind. Die jungen Menschen passen Kleidung und Habitus nach in jede EU -Behörde.
    Gegenüber dem Green Café wird die Fassade des grau gewordenen Hotels Metropol zur Hälfte und zehn Etagen hoch von einer Reklame für das Warschauer Telefonbuch verhüllt. Der es anpreist, sieht wie eine Mischung aus Karel Gott und Hugh Grant aus. Gegen Abend huschen Noten neben seinem Gesicht hoch und runter – es ist die alte Leuchtreklame des Metropol Jazz Club. Auch auf der anderen Straßenseite, hinter dem runden Bankgebäude, traut man den Fassaden nicht und hat eine Alpenlandschaft vorgehängt, die gute Aussicht verspricht.
    Hier ist die größte Kreuzung der Stadt und ihre Mitte. In den späten Nachmittagsstunden der Werktage gibt es mehr Fahrzeuge als Platz auf dem Kreisverkehr. Der nicht endende Stau wird mithilfe von Polizisten und Ampeln geregelt, in der Mitte des Rondells stehen Polizeifahrzeuge bereit, Verkehrssünder abzukassieren und liegen gebliebene Fahrzeuge aus dem Weg zu schieben.
    Der Platz linker Hand wird von einem wuchtigen Bau eingenommen, dessen Giebel mit der Uhr man schon über die ganze Strecke der Linie 4 hat näher kommen sehen. Unbedarfte könnten das Gebäude für einen etwas zu groß geratenen Königspalast halten, andere sprechen von Stalins Hochzeitsgeschenk. Im Grunde genommen war es ein Trojanisches Pferd. Als der Kulturpalast mit einer Grundfläche von einer Million
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