Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
romantische Phase gehabt haben, die etliche Marienkäfer auf dem Kopf hinterließ. Als er am Modenapark aussteigt, starren die Einsteigenden, als würde gerade ein Außerirdischer den Bus verlassen. Er schaut durch sie hindurch, er wird diese Blicke gewohnt sein. Dann verschwindet er in der Menge, und der Bus fährt weiter, vorbei am Büro der Wiener Freiheitlichen. »Jetzt erst recht«, verkündet ein Plakat hinter ungeputzten Fenstern. Die rechtspopulistische Partei hat sich nun auch in Wien gespalten, nachdem es in den letzten Wahlen erdrutschartige Stimmenverluste gab. Das ist wohl der Rest, der da glaubt, noch weitermachen zu müssen. Drei Häuser weiter hängt ein vergessener Weihnachtsmann an einem Balkon, einen Einbruch in eine Wohnung simulierend, die leer steht. Die Farbe seines Mantels ist von der Sonne ausgeblichen und nur noch rosa. Eines Tages wird er sich aus Materialmüdigkeit zu Tode stürzen.
    Ausgerechnet über dem Schild des Instituts für Konfliktforschung ist die Fassade des Zwischenkriegsgebäudes mit Einschusslöchern aus einem der Häuserkämpfe Ende des Zweiten Weltkriegs übersät, die man ansonsten nur noch selten im Stadtbild sieht. Auf der anderen Straßenseite beginnt der erste Bezirk, und die fein gemachten Theaterbesucher steigen aus.
    Der Bus endet an dem ewigen Provisorium, das Karlsplatz heißt und einer der unwirtlichsten Plätze Europas ist. Umsäumt von Bauzäunen tut das Kunsthallencafé so, als würde der Blick von der Terrasse aufs Meer gehen. Man hat Sofas und Sitzsäcke auf die Veranda gekarrt – ein Livingroom unter freiem Himmel, wo junge Menschen Designergetränke mit Strohhalmen zu sich nehmen. Plötzlich bricht ein Haufen Kinder durch das Gebüsch und hüpft an den Wohnzimmerbesuchern vorbei. Sie haben ihre Sonntagssachen an, die Mädchen mit Kopftüchern und weißen Strümpfen, die Jungen in Anzügen, die jetzt am Abend schon etwas derangiert aussehen. Ihnen folgt sehr aufrecht und sehr groß ihre Mutter, die ihr Kopftuch in Art von Roma-Frauen gebunden hat. Sie trägt eine Laptoptasche und strahlt eine Würde aus, die die Cafébesucher mit ihrem ausgestellten Selbstbewusstsein beschämen müsste, wenn sie die Frau überhaupt wahrnähmen. Das jüngste Kind albert im Vorübergehen mit zwei Rassehunden, die zu den jungen Hippen im Café gehören. Wahrscheinlich geben die Besitzer für den Unterhalt der Hunde im Monat mehr Geld aus, als die Mutter zur Verfügung hat. Im selben Moment geht jenseits der breiten Allee vor dem Platz die Leuchtreklame an: »Reden wir übers Leben.«

’s Vieritram
    Zürich, Schweiz
    E ine junge Schweizerin, Karin, kam 1988 nach Ostberlin an die Humboldt-Universität, um ein Semester Germanistik zu studieren. Das Thema ihrer Lizenziatsarbeit war die Berliner Mauer in der Literatur. Sie wollte sich das Bauwerk einmal länger als für einen Tagesausflug von der anderen Seite ansehen. Das war ungewöhnlich, äußerst selten traute sich jemand aus dem Westen zu uns. Wir freundeten uns an. Die ostdeutschen Sicherheitsbehörden wurden bald misstrauisch, was dazu führte, dass sie nach diesem Semester nicht mehr in die DDR gelassen wurde. Ich durfte vor dem sechzigsten Lebensjahr nicht reisen. Wir waren also getrennt. Anfang 1989 war nicht abzusehen, dass sich das jemals ändern könnte. Wir trafen uns in Budapest und malten uns aus, wie es sein würde, vor dem Café Odeon in Zürich zu sitzen. Inzwischen sind wir um die fünfzig, sitzen im Odeon und halten uns eine Stunde lang an einem Cappuccino fest. Ein zweiter würde uns ruinieren. Zürich ist die teuerste Stadt der Welt, das haben wir schon geahnt, aber The Economist hat es in seiner alljährlichen Liste der teuersten Städte der Welt bestätigt. Ein Käsefondue am Limmatquai für zwei Personen und dazu zwei Gläser Glühwein kosten 100 Euro. Ein teurer Spaß für ein Käsebrot. Aber der Ausblick auf die andere Uferseite der Limmat, auf Rathaus und Bankenviertel, ist beeindruckend, und außerdem fährt alle zehn Minuten eine 4 an unserem Tisch vorbei. Die Straßenbahn, auch »das Tram« genannt, ist eine der sympathischsten Seiten Zürichs. Die älteren blau-weißen Wagen wirken wie aus der Zeit gefallen mit ihren altmodischen Klingeln und ihrer charmanten Art, den Verkehr aufzuhalten. Am Limmatquai wurden die Autofahrer inzwischen aus dem Weg geräumt, da hat die Bahn freie Fahrt, genau wie auf der Bahnhofstraße. Das Altmodische ist nur Schein. In Wirklichkeit werden die öffentlichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher