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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt
Autoren: Annett Groeschner
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verstellt. Dort ist man bei Grabungen gerade auf Zeugnisse aus der Steinzeit gestoßen.
    Die Bahn fährt die Seefeldstraße entlang. Nach der Niederlegung der Stadtbefestigung und der Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit 1931 ließen sich viele Handwerker und Gewerbetreibende im Seefeld nieder. Entlang der Hauptstraße siedelten sich Brauereien, Mühlen, Gasthäuser und andere Kleinbetriebe an, es entstanden bürgerliche Villen und in den seefernen Nebenstraßen auch Baumeisterhäuser, wie die von Handwerkern und nicht von Architekten errichteten frei stehenden Vorstadthäuser mit Geschosswohnungen im klassizistischen Stil in Zürich genannt werden. In der Vergangenheit fielen viele dieser Häuser dem Abriss zum Opfer, aber inzwischen ist es, ähnlich wie in den Gründerzeitvierteln in Deutschland, schick geworden, in ehemaligen Mietshäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert zu wohnen. Das führte dazu, dass das Wohnen im Seefeld inzwischen sehr teuer ist und der Anteil der Handwerksbetriebe zugunsten von Anwaltskanzleien, Feinkostgeschäften und Beautyshops abgenommen hat. Nach sechs Haltestellen macht die Bahn eine leichte Rechtskurve, die Häuser treten zurück, und plötzlich hat man freien Blick auf den See mit seinen großzügigen Kaianlagen und dem jetzt im Winter verlassenen Strandbad Tiefenbrunnen. Ein einzelner Ruderer ist auf dem Wasser, im Hintergrund das Panorama der Alpen, leicht verschwommen.
    Karin erzählt, dass sie sich als Kinder einer Mutprobe stellten: Sie schwammen von der Badeanstalt am anderen Ufer eineinhalb Kilometer über den See nach Seefeld und liefen von dort im Badeanzug um den See zurück zum Ausgangspunkt. Sich heimlich als blinder Passagier in die Straßenbahn zu schummeln, war fast unmöglich, denn es gab damals noch in jedem Wagen Konduktoren. Als sich Ende der sechziger Jahre nicht mehr genug Personal für diese Tätigkeit fand, wurde kurzerhand der Tramverkehr ausgedünnt. 1970 führte man Automaten ein. Unmittelbar neben der Endhaltestelle ist der Bahnhof Tiefenbrunnen. Schräg gegenüber lädt ein imposanter Ziegelbau zum näheren Hinsehen ein. Es ist die Brauerei Tiefenbrunnen, die aber schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von der Brauerei Hürlimann aufgekauft wurde, die sich zu der Zeit ihr Imperium schaffte. Inzwischen braut hier niemand mehr Bier. Die Produktionsräume sind zu Lofts ausgebaut, und im Erdgeschoss ist ein In-Lokal. Wir fahren zurück Richtung Bellevue.
    Die 4 ist allein daran schon zu erkennen, dass sie mit nagelneuen Niederflurbahnen unterwegs ist, die, weil keiner VBZ Be 5/6 sagen will, Cobra heißen und die, wenn sie um die Kurven fahren, auch ein bisschen wie Schlangen aussehen, allerdings völlig ungiftige. Ungefährlich sind sie nicht, denn sie gleiten eher, als dass sie fahren, und können deshalb leicht überhört werden. Weil sie keine Achsen, sondern Fahrwerke mit Einzelrädern haben, stellen sich die Räder in den Kurven nicht quer, sodass Kreischen und Quietschen der Vergangenheit angehören. Die Cobras sind extra für die Gegebenheiten des Zürcher Verkehrs entwickelt worden, der Maximalsteigungen bei extremer Witterung verkraften muss. Die 4 verkehrt allerdings nur als Flachlandlinie. Unter der Frontscheibe steht groß » ZÜRICH WEST « und kleiner: »erfahren erforschen erleben«, eine Reklame für die Linienverlängerung der 4 nach Zürich West, die erst seit vierzehn Tagen eröffnet ist.
    Der beste Platz in der Cobra ist am Heckfenster. Man sitzt dort wie in einer Loge und kann dem Treiben auf der Straße zusehen, ohne selbst ein aktiver Teil davon zu sein, ähnlich dem Vetter in seinem Eckfenster bei E. T. A. Hoffmann, der, da gelähmt, nur noch das Leben auf dem Platz vor sich beobachten und in Worte fassen kann. Auf dem Limmatquai hat die Mittagspause noch nicht angefangen, es sind mehr Touristen unterwegs als Angestellte. In der Bahn ist es relativ still bis auf die eine oder andere Touristengruppe, die krakeelt, sind die meisten Leute mit dem Lesen von Büchern, Briefen, ihren Smartphones und dem Käseblatt 20 Minuten beschäftigt.
    Am Central, der zweiten großen Kreuzungsstelle der Straßenbahn, hält eine der schönen älteren Straßenbahnen mit den Falttüren, die sich beim Öffnen und Schließen immer anhören, als würden sie ein- und ausatmen. Tram 2000 heißen sie, und als die ersten 1976 in Betrieb gingen, war das Millennium noch ein halbes Jahrhundert entfernt. Jetzt fahren sie schon fünfunddreißig Jahre durch
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