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Mit 80 000 Fragen um die Welt

Mit 80 000 Fragen um die Welt

Titel: Mit 80 000 Fragen um die Welt
Autoren: Dennis Gastmann
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Bögen und Giebeldächern aus Holz. Das Rathaus hat einen mittelalterlichen Turm mit dem Wappen von Bariloche und einer Uhr, die abends leuchtet. Davor lassen sich Touristen mit einem Bernhardiner fotografieren. Der Hund trägt ein hölzernes Fässchen um den Hals.

    Es gibt zwei Gruppen von Leuten, die heute nach Bariloche reisen. Die einen machen Urlaub, weil es hier so aussieht, wie man sich in Argentinien Europa vorstellt. Die anderen sind Nazitouristen, so wie ich. Sie haben den zweifelhaften, grenzhistorischen Reiseführer «Bariloche Nazi» gekauft und wandeln auf den Spuren der N S-Verbrecher durch die Stadt. Man muss nicht weit gehen, um ein kleines Stück Drittes Reich zu entdecken. Zum Beispiel den «Club Andino», einen alpinen Skiverein, mit dem S S-Leute so gerne in die Berge gefahren sind. Sein prominentestes Mitglied war Hans Rudel, ein hochdekorierter Fliegerheld, der im Zweiten Weltkrieg nach eigenen Angaben zweitausend Panzer, Brücken, Kriegsschiffe zerbombt haben will. Bis ihn ein 4 0-Millimeter -Geschoss vom Himmel holte, das kostete ihn das rechte Bein. Trotz Prothese konnte Rudel bei Skirennen an den Hängen des Cerro Catedral glänzen und wurde ganz nebenbei zur Ikone der rechten Bewegung in Deutschland. Auch Friedrich Lantschner war Mitglied des Skivereins. Der ehemalige Gauleiter von Tirol betrieb in Patagonien eine kleine Baufirma, deren Fahrzeuge jahrzehntelang ungestört mit dem Symbol der SS durch die Gegend gerollt sein sollen. Weitere prominente Nazis in Bariloche: der N S-Agent Reinhard Kopps und S S-Oberscharführer Josef Schwammberger. Zeitweise jobbte Josef Mengele persönlich hier als Badearzt. Die Nazis brachten Geld und gute Kontakte in die Stadt, und die deutscheGemeinde empfing sie mit offenen Armen. Ach ja: Falls Sie mal in Bariloche Urlaub machen sollten, dann besteigen Sie den Cerro Otto. Der Ausblick ist atemberaubend, und ganz oben steht eine Skihütte. Ihr Name: Berghof.
    «Das alles ist wie ein Fluch, der über Bariloche liegt!», schimpft Juan Schulz, ein Argentinier deutscher Abstammung. Juan ist eine lustige Mischung: Mit seinem Haarkranz, dem runden Gesicht und seiner breiten Nase sieht er aus wie ein deutscher Zahnarzt; doch gestikuliert er mit dem Feuer eines Latinos. Juan bittet mich, ihn Hans zu nennen. Eigentlich könnte man ihn auch «Hans im Unglück» nennen, denn Juan Hans Schulz musste Tür an Tür mit Naziverbrechern aufwachsen.
    «Wussten Sie denn, was diese Menschen getan hatten?»
    «Na ja, jeder wusste: Der ist Nazi, der war SS. Aber keiner hat gefragt, was diese Leute persönlich verbrochen hatten.»
    Hans sagt, Argentinien habe den Nazis ein Land ohne Vergangenheit geboten. Man habe sich gefreut, dass Leute kamen, die gebildet waren, gut Deutsch sprachen und die Gemeinde mit ihren Fertigkeiten bereicherten. Als Gegenleistung wurde über Nationalsozialismus und Holocaust kein einziges Wort verloren. Hans nennt das den «Pakt des Schweigens». Eine Verschwörung, die er schon vor Jahren brechen wollte. Er setzte sich mit der kleinen jüdischen Gemeinde Bariloches zusammen, organisierte Holocaust-Seminare und entwarf Lehrpläne für den Geschichtsunterricht an der deutschen Schule, die seine Kinder besuchten. Zum Dank warf man ihn aus dem Deutschen Kulturverein.
    «So sind die Deutschen hier in Bariloche: ‹Ey, Hans, warum triffst du dich mit den Juden? Wieso sprichst du über den Holocaust? Warum hast du so ein Schuldgefühl?› Das haben sie mir gesagt, ganz persönlich.»
    Seinem Freund Ricardo, einem jüdischen Arzt aus Bariloche, haben sie noch ganz andere Dinge gesagt: Wenn er nicht aufhöre, für Unfrieden zu sorgen, werde man einen Lampenschirm aus ihm machen.
    «Weißt du, ich bin vielleicht der Einzige mit deutschen Wurzeln, der sich in Bariloche der Vergangenheit gestellt hat. Sonst passiert hier nichts. Nicht in der deutschen Gemeinde, nicht an der deutschen Schule, und auch der deutsche Botschafter rührt sich nicht. Die Altnazis sind tot, aber ihr Gedankengut ist geblieben: Du sprichst mit den Leuten hier über Holocaust, über Genozid, über Vernichtungskrieg im Osten, aber die wissen überhaupt nichts. Die Kinder in Bariloche schauen auf ein Bild und sagen: ‹Oh, Hitler, wie schön! Der hat ja ’nen lustigen Schnurrbart!› Die wissen gar nicht, was wirklich gelaufen ist.»
    Hans sagt, ich müsse es selbst erleben, und gibt mir ein paar Telefonnummern von deutschen Familien aus Bariloche. Ich verspreche ihm, nach den Rechten zu
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