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Mit 50 hat man noch Träume

Mit 50 hat man noch Träume

Titel: Mit 50 hat man noch Träume
Autoren: Bärbel Böcker
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Absender
des ungeöffneten Briefes, der neben ihm auf der Arbeitsplatte in der großen Restaurantküche
lag. Verbandsgemeindeverwaltung Altenahr . Bislang hatte er von der Gemeinde
noch nie Post mit guten Nachrichten erhalten, und so verspürte er auch jetzt keine
Eile, den Brief zu öffnen. Das hatte Zeit. An seinen Händen klebten Gemüsereste,
und er wollte die Arbeit nicht unterbrechen. Lao Wang presste die Lippen aufeinander.
Als vor drei Wochen der letzte Brief von der Gemeinde eingetroffen war, war er dazu
aufgefordert worden, die chinesischen Schriftzeichen über dem Lokal zu entfernen.
Begründung: Die Zeichen störten das Ortsbild. Um das Erscheinungsbild eines typischen
Ahr-Touristenortes nicht zu gefährden, sei es nötig, auf optische Einheitlichkeit
und Authentizität zu achten. Zähneknirschend hatten Lao Wang und Wang Yi, sein Erstgeborener,
der auch Geschäftsführer ihres Betriebs war, die Anweisung befolgt. Widerstand wäre
zwecklos gewesen, denn was der Gemeinderat beschloss, war Gesetz. Lao Wang wusste,
seine Familie war so manchem hier ein Dorn im Auge, und das, obwohl sie reichlich
Steuern zahlten und sich auch ansonsten nichts zuschulden kommen ließen.
    Er schob
den Brief mit dem Ellbogen noch ein kleines Stück weiter von sich weg und dachte: Auch der hellste Tag hat seine Schatten.
    Einen Moment
hielt er inne und betrachtete Wang San, den Drittgeborenen, dem er und seine Frau
heute in der Küche zur Hand gingen. Ihr Zweitgeborener war kurz nach seiner Geburt
gestorben, und Lao Wang verspürte auch nach so vielen Jahren noch tiefe Trauer,
wenn er daran dachte.
    Wang San
hatte mittlerweile in der Küche das Sagen, und er machte seine Sache gut, denn er
war ein ausgezeichneter Koch. Er hatte viel von seinem Vater gelernt.
    Lao Wang
hatte sich mit seinen 72 Jahren weitestgehend aus dem Betrieb zurückgezogen und
widmete sich nun, so oft es ging, seiner Leidenschaft, der Kalligrafie. Wenn allerdings
sehr viele Gäste erwartet wurden, legte er den Pinsel beiseite und half Wang San,
gemeinsam mit dessen Mutter Zhang Liu, in der Küche.
    Jetzt waren
sie alle damit beschäftigt, Jiaozi zu formen, kleine Teigtäschchen, in die sie die
unterschiedlichsten Füllungen steckten, von gemischtem Gemüse über gehacktes Schweinefleisch
bis hin zu Garnelenpüree, gewürzt mit Ingwer. Sie sollten als Vorspeise serviert
werden, mehrere 100 Stück davon mussten sie fertigen, und Lao Wang widmete sich
wieder ganz der Arbeit. Für ihn verhielt es sich mit Jiaozi wie mit der chinesischen
Seele: nach außen einfach, nach innen vielfältig.
    Durch die
geöffnete Küchentür drang das Gezwitscher seiner Singvögel, die in einem Vogelkäfig
an einem Baum leicht im Wind hin und her schaukelten, und während er weiteren Teig
ausrollte, lauschte er den hellen Stimmen. Sie wirkten angenehm beruhigend auf ihn.
    »Sieh mal,
da!«, sagte seine Frau Zhang Liu, die er vor mehr als 50 Jahren geheiratet hatte,
aufgeregt in seine Gedanken hinein. Neugierig reckte sie den Kopf, sah aus dem Fenster
und deutete auf das Haus gegenüber. »Da sind sie. Die Neuen! Sie scheinen fleißig
zu sein.«
    Lao Wang
nickte, blickte auf und sagte versonnen: »Zhen de hen nuli.« ( Wirklich sehr fleißig. )
    »Sie machen
alles selbst, oder siehst du irgendwo Helfer?«
    Lao Wang
schüttelte den Kopf.
    »Was sie
in ihrem Restaurant wohl auftischen?«, stellte Liu als Frage in den Raum. »Als gäbe
es nicht schon genug Lokale hier.« Ihre Stimme klang beunruhigt.
    »Mach dir
keine Sorgen, Mutter. Irgendetwas typisch Deutsches kommt da drüben auf den Tisch.«
Wang San, ihr Sohn, rümpfte die Nase und sagte: »Riesige Winzerschnitzel, Hirschbraten
mit Rotkohl und Kroketten und Pommes frites, Entenkeulen mit Rosenkohl … für uns
ist das bestimmt keine Konkurrenz.«
    Liu lächelte
süß. Nein, sicher nicht, Wang San hatte recht. Niemand hier im Ort konnte ihnen
auch nur ansatzweise das Wasser reichen. Außerdem bestand der Großteil ihrer Kundschaft
sowieso aus Chinesen, und die mochten es eben chinesisch. Die deutsche Küche empfanden
sie als barbarisch. Es war einfach abstoßend zu sehen, welch riesige Fleischlappen
da auf die Teller kamen und wie viel davon die Deutschen gierig in sich hineinstopften
als gäbe es kein Morgen. Und sie aßen Käse, was nichts anderes war als verdorbene
Milch! Zhang Liu schüttelte sich. Ihren Landsleuten hatten sie ihren enormen Umsatz
zu verdanken, niemand anderem. Zwar freute sich die Familie auch über jeden
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