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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut
Autoren: Adam Ross
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Schrecksekunde lang so klar und deutlich zu erkennen wie Gesichter, die man in einer durchfahrenden U-Bahn sieht, bevor sie mit Überschallgeschwindigkeit an ihm vorbeirauschten und er schräg in die Leitplanke schlitterte. Der Aufprall war so wuchtig, dass er seinen Nacken und Rücken knacken hörte. Endlich stand er still, und er war noch am Leben. Durch die zertrümmerte Windschutzscheibe sah er Alice’ Bus in der Ferne verschwinden, die Gesichter der Kinder an die Heckscheibe gepresst – und dann röhrte Möbius’ Pick-up vorbei, der auf wundersame Weise wieder auf die Räder gekommen war, spektakulär zerbeult, aber funktionstüchtig.
    Er ließ den Motor an. Das Auto war fahrbereit, mit knapper Not; die Antriebswelle oder die Achse oder sonst irgendetwas schleifte über den Asphalt, und der linke Radschacht war so weit eingedrückt, dass der Wagen nur eingeschränkt lenkbar war. Er rumpelte bis zur Ausfahrt an der 96. Straße, wo er gegenüber der Riverside einen Parkplatz entdeckte.
    »Was zum Teufel ist Ihnen denn passiert?«, fragte der Parkwächter.
    Pepin zog einen Hundertdollarschein aus seiner Brieftasche, den er dem Mann in die Hand klatschte. »Parken Sie ihn irgendwo an einer sicheren Stelle.«
    Dann rannte er los.
     
    David hatte das Gefühl, sich nur lückenhaft an Dr. Ottos Seminar erinnern zu können – an die Debatten und Vorlesungen, an die vielen Stunden, die nun also verloren waren. Sehr gut hingegen konnte er sich daran erinnern, wie er die Filme zum ersten Mal gesehen hatte, an die ersten Momente, an die Erstaufführungen, und wie unschätzbar es war, große Kunst unmittelbar zu erleben, Kunst, die unterhaltsam und doch romantisch war und so unvorhersehbar, dass er niemals wusste, was als Nächstes passieren würde. Auf einmal erschien ihm sein vorheriges Leben mangelhaft. Die Filme gaben ihm das Gefühl, lebendig zu sein. Es gab eine Weinkellerszene in Berüchtigt , in der Cary Grant, ohne es zu merken, eine Weinflasche an den Regalrand schiebt; zersprang die Flasche, nähme das möglicherweise sein und Ingrid Bergmans Verderben vorweg, und instinktiv nahmen er und Alice sich bei der Hand, und als die Flasche tatsächlich herunterfiel, stieß Alice einen Schrei aus. Er erinnerte sich daran, wie Grace Kelly sich in Fenster zum Hof hinunterbeugt, um James Stewart zu küssen, wie ihr Schatten auf sein Gesicht fällt. Sie war zweifelsfrei, dachte Pepin, die schönste Frau, die je gelebt hatte. Oder Tippi Hedren, die rauchend auf dem Schulhof sitzt und mit dem Blick einer einsamen Krähe folgt, die durch den wolkenlosen Himmel fliegt und auf dem Klettergerüst landet, und erst da zeigt sich, dass sich Tausende der schwarzen Vögel vor der Schule versammelt haben.
    An einen Abend damals konnte er sich besonders gut erinnern. Er war nach einer der Filmvorführungen mit dem Fahrrad auf dem Heimweg, und in seinem Kopf überschlugen sich die Bilder, Assoziationen, Zusammenhänge. Er wusste nicht mehr genau, welchen Film er an jenem Abend gesehen hatte, nur dass er mitten auf der dunklen Straße anhielt, erwärmt und erfüllt von der Liebe und vom Genie der Kunst und so dankbar, dass er einen Moment innehalten und das Gefühl durch seine Adern pulsieren lassen wollte. Das ist Leben, dachte er, die Leere wird gefüllt. Der Künstler schafft – er gibt –, und ich empfange, und mein Leben, dieses Leben, wäre nichts wert, würde ich nicht etwas davon in welcher Form auch immer zurückgeben.
    Er wusste es so sicher, wie er wusste, dass er den Rest seines Lebens mit Alice verbringen wollte.
     
    Pepin stieg aus dem Taxi und erstarrte – verwirrt, erschlagen, erschreckt von der Aussicht. Schulbusse, wohin er auch blickte.
    Die Busse parkten auf der Central Park West, bis weit in die 81. Straße hinein, in der u-förmigen Auffahrt des Rose Center. Und natürlich tummelten sich überall Schulkinder, Tausende von ihnen standen vor den Eingängen herum, in Heerscharen verließen oder betraten sie das Gebäude. Mein Gott, dachte er, ich werde meine Frau niemals finden. Er wusste nicht einmal genau, welcher Eingang für ihn der beste wäre, deswegen sprang er an der Central Park West die breite Treppe zu einer Metalltür hinauf, neben der turmhohe Säulen in die Höhe ragten. W AHRHEIT , stand an der romanischen Fassade. W ISSEN . W EITBLICK . In der Entfernung konnte er die Kuppel an der Ecke zur 77. Straße erkennen, deren Turm tiefseegrün leuchtete und von grimmigen Adlern aus Stein bewacht
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