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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel
Autoren: Haruki Murakami
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»Straße«, kein »Weg«, ja nicht einmal ein »Durchgang«. Strenggenommen sollte ein »Durchgang« ein längerer, begehbarer Zwischenraum mit einem Ein- und einem Ausgang sein, der einen, wenn man ihm folgt, irgendwohin führt. Unsere »Gasse« hatte aber weder Ein- noch Ausgang. Man konnte sie nicht einmal als Sackgasse bezeichnen: eine Sackgasse hat zumindest ein offenes Ende. Die Gasse war an beiden Enden zu. Die Leute des Viertels nannten sie nur in Ermangelung eines treffenderen Ausdrucks »die Gasse«. Sie war vielleicht zweihundert Meter lang und schlängelte sich zwischen den Gärten der Häuser hindurch, die sie an beiden Seiten säumten. Nirgendwo breiter als einen Meter, wies sie mehrere Stellen auf, an denen man sich seitwärts durchquetschen mußte, weil Zäune in den Weg hineinragten oder allerlei Gerümpel, das die Leute dorthin geworfen hatten, den Weg versperrte. Von dieser Gasse erzählte man sich - ich hatte die Geschichte von meinem Onkel gehört, der uns unser Haus für einen lächerlich geringen Betrag vermietete -, sie sei ursprünglich an beiden Enden offen gewesen und habe tatsächlich als Verbindungsweg zwischen zwei Straßen gedient. Aber Mitte der fünfziger Jahre waren im Zuge des lebhaften Wirtschaftswachstums auf den leerstehenden Grundstücken beidseits des Durchgangs reihenweise neue Häuser entstanden und hatten diesen immer mehr zusammengedrückt, bis von ihm nicht viel mehr als ein schmaler Pfad übriggeblieben war. Den Leuten war es nicht recht, daß Fremde so nah an ihren Häusern und Gärten vorbeigingen, und so dauerte es nicht lange, bis ein Ende des Weges mit einem eher bescheidenen Zaun abgesperrt - oder besser gesagt, abgeschirmt wurde. Dann beschloß ein Anwohner, sein Grundstück zu erweitern, und riegelte sein Ende der Gasse mit einer Mauer aus Hohlblocksteinen ab. Gleichsam als Reaktion darauf entstand am entgegengesetzten Ende ein Stacheldrahtverhau, so daß nicht einmal mehr Hunde durchkamen. Keiner der Nachbarn beschwerte sich, da keiner von ihnen die Gasse als Durchgang benutzte und sich alle sogar über diesen zusätzlichen Schutz gegen Einbrecher freuten. So endete die Gasse als eine Art verlassener, ausgetrockneter Kanal: kaum mehr als eine Pufferzone zwischen zwei Häuserzeilen. Spinnen spannten im hohen Bewuchs ihre klebrigen Netze aus.
    Warum hatte Kumiko einen solchen Ort aufgesucht? Ich selbst war diese »Gasse« lediglich zweimal abgegangen, und Kumiko fürchtete sich normalerweise vor Spinnen. Ach, zum Teufel - wenn Kumiko sagte, ich sollte auf die Gasse gehen und nach dem Kater suchen, dann würde ich eben auf die Gasse gehen und nach dem Kater suchen. Über alles weitere konnte ich nachdenken, wenn es soweit war. Ein paar Schritte im Freien zu tun war auf alle Fälle erheblich besser, als zu Haus herumzusitzen und darauf zu warten, daß das Telefon klingelte. Der grelle frühsommerliche Sonnenschein übersprenkelte den Boden mit den harten Schatten der Äste, die sich über die Gasse reckten. So ohne Wind, der die Äste bewegt hätte, sahen die Schatten wie bleibende Verfärbungen aus, Muster, die sich unauslöschlich in das Pflaster eingezeichnet hatten. An diesen Ort schienen keinerlei Geräusche zu dringen. Fast konnte ich die Grashalme im Sonnenlicht atmen hören. Ein paar Wölkchen schwebten am Himmel, scharf und klar umrissen wie die Wolken auf mittelalterlichen Holzschnitten. Ich sah alles mit einer so unvorstellbaren Klarheit, daß sich mein Körper dagegen verschwommen und entgrenzt und flüssig anfühlte … und heiß!
    Ich trug ein T-Shirt, eine dünne Baumwollhose und Tennisschuhe, aber wie ich so in der Sommersonne ging, spürte ich, daß sich unter meinen Achseln und in der Vertiefung meiner Brust ein dünner Schweißfilm bildete. T-Shirt und Hose waren in einem Karton voll Sommersachen eingepackt gewesen, und als ich sie am Morgen herausgeholt hatte, war mir der scharfe Geruch von Mottenkugeln in die Nase gestiegen.
    Die Häuser, die die Gasse säumten, fielen unter zwei klar unterscheidbare Kategorien: ältere Häuser und solche, die in jüngerer Zeit gebaut worden waren. Insgesamt waren die neueren Häuser kleiner und hatten entsprechend kleinere Gärten. Oft ragten die Trockenstangen in die Gasse hinein, so daß ich gelegentlich gezwungen war, mich zwischen Vorhängen von Handtüchern und Laken und Unterhemden hindurchzuschlängeln. Über manche Gartenmauern drangen deutlich die Geräusche laufender Fernsehgeräte und
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