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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel
Autoren: Haruki Murakami
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Rasen endete, ragte eine große Eiche empor. Unter dem Baum standen zwei stoffbespannte Liegestühle. Auf einem von beiden war ein blaues Badetuch ausgebreitet, auf dem anderen lagen eine unangebrochene Schachtel Hope ohne, ein Aschenbecher und Feuerzeug, eine Zeitschrift und ein riesiger Ghetto-Blaster. Der Ghetto-Blaster spielte in niedriger Lautstärke Hardrock. Sie schaltete die Musik aus und räumte den Liegestuhl für mich frei, indem sie alles ins Gras fallen ließ. Vom Liegestuhl aus konnte ich in den Garten des leerstehenden Hauses sehen - auf den steinernen Vogel, die Goldraute, den Maschendrahtzaun. Das Mädchen hatte mich wahrscheinlich, so lang ich dagewesen war, beobachtet. Der Garten dieses Hauses war sehr groß. Er hatte einen breiten, abschüssigen Rasen, auf dem verstreut Gruppen von Bäumen standen. Links von den Liegestühlen bot ein ziemlich großer, betonierter Teich seinen leeren Bauch der prallen Sonne dar. Nach der grünlichen Färbung des Betons zu urteilen, war schon seit einiger Zeit kein Wasser mehr darin gewesen. Wir saßen mit dem Rücken zum Haus, das durch eine Zeile von Bäumen hindurchsah. Das Haus war weder groß noch besonders aufwendig gebaut. Nur der Garten vermittelte einen Eindruck von Größe, und er war sehr gepflegt.
    »Was für ein großer Garten«, sagte ich, während ich mich umsah. »Muß ganz schöne Mühe machen, ihn in Ordnung zu halten.«
    »Muß wohl.«
    »Als Junge habe ich für eine Gärtnerei gearbeitet, Rasen gemäht.«
    »Ah ja?« Sie interessierte sich offenbar nicht für Rasen. »Bist du hier immer allein?« fragte ich.
    »Ja. Immer. Außer morgens und abends, da kommt ein Dienstmädchen. Tagsüber bin nur ich da. Allein. Möchten Sie was Kaltes zu trinken? Wir haben Bier.«
    »Nein, danke.«
    »Wirklich nicht? Nur keine Hemmungen.« Ich schüttelte den Kopf. »Gehst du nicht zur Schule?«
    »Gehen Sie nicht arbeiten?«
    »Hab keine Arbeit.«
    »Job verloren?«
    »So ungefähr. Ich hab vor ein paar Wochen gekündigt.«
    »Was war das für ein Job?«
    »Ich war Laufbursche in einer Anwaltskanzlei. Ich mußte Dokumente von verschiedenen Behörden holen, Material ordnen, nach Präzedenzfällen suchen, Prozesse vorbereiten - solche Sachen eben.«
    »Aber Sie haben gekündigt.«
    »Ja.«
    »Hat Ihre Frau einen Job?«
    »Hat sie.«
    Die Taube von gegenüber hatte offenbar ihr Gegurre eingestellt und sich anderswohin verfügt. Plötzlich merkte ich, daß mich tiefe Stille umgab. »Direkt da drüben ist die Stelle, wo die Katzen durchziehen«, sagte sie und deutete zum Rand des Rasens. »Sehen Sie den Müllverbrenner im Garten der Takitanis? Sie kommen an der Stelle unter dem Zaun durch, laufen durchs Gras, unter dem Tor raus und dann über den Weg zum Garten gegenüber. Sie nehmen immer dieselbe Route.«
    Sie schob sich die Sonnenbrille in die Stirn, spähte aus zusammengekniffenen Augen über den Rasen hinweg, nahm dann die Brille wieder herunter und stieß dabei eine Rauchwolke aus. In der Zwischenzeit sah ich, daß sie neben dem linken Auge eine Schnittwunde von vielleicht fünf Zentimetern Länge hatte - eine Wunde, die wahrscheinlich eine bleibende Narbe hinterlassen würde. Die dunkle Sonnenbrille hatte wahrscheinlich den Zweck, die Verletzung zu verbergen. Das Gesicht des Mädchens war nicht eigentlich schön, aber es hatte etwas Anziehendes, wahrscheinlich durch die lebhaften Augen und die ungewöhnliche Form der Lippen.
    »Haben Sie schon von den Miyawakis gehört?« fragte sie. »Nein, nichts«, sagte ich.
    »Das sind die, die früher in dem leerstehenden Haus wohnten. Eine sehr noble Familie. Sie hatten zwei Töchter, beide in einer privaten Mädchenschule. Herr Miyawaki war Besitzer von ein paar Familienrestaurants.«
    »Warum sind sie ausgezogen?«
    »Vielleicht hatte er Schulden. Es sah fast so aus, als würden sie weglaufen - haben sich eines Nachts einfach davongeschlichen. Vor ungefähr einem Jahr, würd ich sagen. Haben das Feld geräumt und das Haus dem Schimmel und den Katzen überlassen. Meine Mutter beklagt sich andauernd.«
    »Sind da drüben wirklich so viele Katzen?«
    Die Zigarette zwischen den Lippen, hob das Mädchen die Augen zum Himmel. »Von jeder Sorte. Welche mit Haarausfall, welche mit nur einem Auge … und da, wo das andere Auge war, einem Klumpen von blutigem Fleisch. Kotz!« Ich nickte.
    »Ich hab eine Verwandte, die sechs Finger an jeder Hand hat. Sie ist nur ein bißchen älter als ich. Neben dem kleinen Finger hat sie noch
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