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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel
Autoren: Haruki Murakami
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ich über alles so ernsthaft nachgedacht hätte, wie du das tust. Ich habe wohl angenommen, wenn ich auf die übliche Weise weiterleben würde, würde sich schon alles irgendwie von selbst ergeben. Hat’s aber dann wohl doch nicht, wie? Leider.«
    May Kasahara sah mir in die Augen. Ihr Gesicht wirkte gelassen. Dann legte sie ihre behandschuhten Hände in den Schoß, eine über die andere. »Dann wurde Kumiko also doch nicht aus dem Gefängnis gelassen?« fragte sie.
    »Sie hat sich geweigert, freigelassen zu werden«, sagte ich. »Sie war sich sicher, daß draußen gleich alle über sie herfallen würden. Da wollte sie lieber im Gefängnis bleiben, wo sie wenigstens ihre Ruhe hat. Sie will nicht einmal mich sehen. Bis alles vorbei ist, will sie niemanden sehen.«
    »Wann fängt die Verhandlung denn an?«
    »Irgendwann im Frühjahr. Kumiko bekennt sich schuldig. Sie will das Urteil annehmen, wie es auch lauten mag. Es dürfte kein langer Prozeß werden, und es besteht eine reelle Chance, daß sie eine Bewährungsstrafe bekommt - oder schlimmstenfalls eine leichte Freiheitsstrafe.«
    May Kasahara hob einen Stein auf, der zu ihren Füßen lag, und warf ihn zur Mitte des Teiches. Er schlitterte klappernd über das Eis bis ans andere Ufer. »Und Sie, Mister Aufziehvogel - Sie werden wieder zu Hause bleiben und auf Kumiko warten?«
    Ich nickte.
    »Das ist gut … nicht?«
    Ich stieß meinerseits eine große weiße Wolke in die kalte Luft. »Ich weiß nicht. So hat es sich bei uns nun mal ergeben.«
    Es hätte auch ein ganzes Stück schlimmer kommen können, sagte ich mir. Irgendwo tief in dem Wald, der den Teich umgab, schrie ein Vogel auf. Ich hob den Kopf und sah in die Runde, aber es war nichts mehr zu hören. Nichts zu sehen. Nur das trockene, hohle Geräusch eines Spechts, der ein Loch in einen Baumstamm hämmerte.
    »Wenn Kumiko und ich ein Kind bekommen, denke ich daran, es Korsika zu nennen.«
    »Was für ein hübscher Name!« sagte May Kasahara.
     
    Als wir nebeneinander durch den Wald zurückgingen, zog May Kasahara ihren rechten Handschuh aus und schob die Hand in meine Tasche. Das erinnerte mich an Kumiko. Sie hatte das früher auch oft getan, wenn wir im Winter zusammen spazierengegangen waren; so konnten wir uns an einem kalten Tag eine Tasche teilen. Ich hielt May Kasaharas Hand in der Tasche fest. Es war eine kleine Hand, und warm wie eine einsame Seele.
    »Wissen Sie was, Mister Aufziehvogel, jeder wird meinen, wir wären ein Liebespaar.«
    »Mag schon sein.«
    »Wie ist es nun, haben Sie alle meine Briefe gelesen?«
    »Deine Briefe?« Ich wußte nicht, wovon sie sprach. »Tut mir leid, aber ich hab noch nie auch nur einen einzigen Brief von dir bekommen. Deine Adresse und Telefonnummer habe ich von deiner Mutter. Was nicht einfach war: Ich mußte schon ein ganzes Stück von der Wahrheit abweichen.«
    »Oh, nein! Wo sind die bloß alle gelandet? Ich hab Ihnen bestimmt fünfhundert Briefe geschrieben!« May Kasahara hob die Augen gen Himmel.
     
    Am späten Nachmittag begleitete mich May Kasahara bis zum Bahnhof. Wir fuhren mit dem Bus in den Ort, aßen in einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs eine Pizza und warteten auf den drei Wagen kurzen Dieselzug, der schließlich einfuhr. Zwei oder drei Leute standen um den großen Holzofen herum, der im Warteraum rot glühte, aber wir beiden blieben draußen auf dem Bahnsteig in der Kälte. Ein klarer, harter Wintermond hing festgefroren am Himmel. Es war ein junger Mond, mit einer gebogenen Schneide wie ein chinesisches Schwert. Unter diesem Mond stellte sich May Kasahara auf die Zehenspitzen und küßte mich auf die Wange. Ich fühlte, wie ihre kalten dünnen Lippen mich an der Stelle berührten, wo mein Mal gewesen war.
    »Ade, Mister Aufziehvogel«, murmelte sie. »Danke, daß Sie meinetwegen den ganzen Weg hier rausgekommen sind.«
    Die Hände tief in den Taschen vergraben, sah ich ihr in die Augen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.
    Als der Zug einfuhr, streifte sie sich die Mütze ab, trat einen Schritt zurück und sagte zu mir: »Wenn Ihnen je etwas zustoßen sollte, Mister Aufziehvogel, rufen Sie einfach, richtig laut, nach mir, okay? Nach mir und den Entenleuten.«
    »Leb wohl, May Kasahara«, sagte ich.
     
    Die Sichel des Mondes hing noch lange, nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, über meinem Kopf; jedesmal, wenn der Zug eine Kurve fuhr, erschien er und verschwand wieder. Ich hielt den Blick auf den Mond gerichtet, und wenn er
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