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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel
Autoren: Haruki Murakami
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zustande, als einzuatmen und die Luft mit einem heiseren Geräusch wieder herauszulassen.
    »Sie sollten vorläufig besser nicht versuchen, sich zu bewegen oder zu reden«, sagte Muskat. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen neben mir auf einem Stuhl. »Zimt sagt, daß Sie zu lange im Brunnen geblieben sind - es war eine Rettung in allerletzter Minute. Aber fragen Sie mich nicht, was passiert ist. Ich weiß überhaupt nichts. Ich bin mitten in der Nacht angerufen worden, habe mir sofort ein Taxi kommen lassen und bin so schnell ich konnte hierhergefahren. Was vorher im einzelnen passiert ist, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ihre Sachen waren durchnäßt und voller Blut. Wir haben sie weggeworfen.« Muskat war schlichter als sonst angezogen, als habe sie wirklich in aller Eile das Haus verlassen. Sie trug einen cremefarbenen Kaschmirpullover über einem gestreiften Männerhemd und einen olivfarbenen Wollrock, keinerlei Schmuck, und ihr Haar war nach hinten gebunden. Sie sah ein wenig müde aus, aber ansonsten hätte sie einem Modekatalog entstiegen sein können. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie mit ihrem goldenen Feuerzeug an, das sie mit dem gewohnten sauberen, trockenen Klick wieder zuschnappen ließ, und tat dann mit leicht zusammengekniffenen Augen einen ersten Zug. Ich bin wirklich nicht gestorben, beruhigte ich mich, als ich das Geräusch des Feuerzeugs hörte. Zimt mußte mich gerade noch rechtzeitig aus dem Brunnen gezogen haben.
    »Zimt versteht alles auf eine besondere Weise«, sagte Muskat. »Und anders als Sie und ich macht er sich unentwegt sehr ernst Gedanken darüber, was passieren könnte. Aber nicht einmal er hat damit gerechnet, daß das Wasser so rasch zurückkehren würde. So viele Möglichkeiten er auch berücksichtigt hatte - die war nicht darunter gewesen. Und deswegen hätten Sie beinahe das Leben verloren. Das war das erste Mal überhaupt, daß ich den Jungen in Panik gesehen habe.« Als sie das sagte, brachte sie ein kleines Lächeln zustande. »Er muß Sie wirklich mögen«, sagte sie.
    Was sie danach sagte, bekam ich nicht mehr mit. Tief hinter meinen Augen spürte ich einen dumpfen Schmerz, und meine Lider wurden immer schwerer. Ich ließ sie zufallen, und ein Fahrstuhl zog mich hinab in die Dunkelheit.
     
    Mein Körper brauchte zwei volle Tage, um sich einigermaßen zu erholen. Muskat blieb die ganze Zeit über bei mir. Ich konnte nicht allein aufstehen, ich konnte nicht sprechen, ich konnte kaum essen. Mehr als ein paar Schlückchen Orangensaft und ein paar Schnitzen Dosenpfirsiche bekam ich nicht herunter. Muskat fuhr abends nach Haus und kam am Morgen wieder zurück. Was völlig genügte, da ich die ganze Nacht wie ein Stein durchschlief - und den größten Teil des Tages auch. Schlaf war offenbar das, was ich für meine Genesung am dringendsten benötigte.
    Zimt bekam ich nie zu Gesicht. Er schien mich bewußt zu meiden. Ich hörte immer sein Auto hereinfahren, wenn er Muskat absetzte oder wieder abholte, oder wenn er Lebensmittel oder etwas zum Anziehen vorbeibrachte - hörte dieses ganz besondere tiefe Grollen, das Porschemotoren erzeugen, denn den Mercedes benutzte er nicht mehr -, aber er selbst kam nie ins Haus. Er drückte Muskat an der Tür die Sachen in die Hand und fuhr dann wieder weg. »Das Haus sind wir bald los«, sagte Muskat zu mir. »Um die Frauen werde ich mich dann wieder selbst kümmern müssen. Was soll’s. Das ist wohl mein Schicksal. Ich werde einfach weitermachen müssen, bis ich restlos verbraucht bin - leer. Und Sie: Sie werden wahrscheinlich nie wieder etwas mit uns zu tun haben. Wenn alles vorbei ist und Sie wieder beieinander sind, täten Sie am besten daran, uns so schnell wie möglich zu vergessen. Weil … Ach ja, das hätte ich beinah vergessen, Ihnen zu erzählen. Über Ihren Schwager. Noboru Wataya.« Muskat holte eine Zeitung aus dem Nebenzimmer und schlug sie auf dem Tisch auf. »Zimt hat die vorhin gebracht. Ihr Schwager ist letzten Abend in Nagasaki zusammengebrochen. Sie haben ihn dort ins Krankenhaus geschafft, aber er hat seither das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Man weiß nicht, ob er je wieder zu sich kommt.«
    Nagasaki? Ich verstand kaum, was sie sagte. Ich wollte widersprechen, aber ich bekam kein Wort heraus. Noboru Wataya hätte in Akasaka zusammengebrochen sein müssen, nicht in Nagasaki. Warum Nagasaki?
    »Er hat in Nagasaki eine Rede gehalten«, fuhr Muskat fort, »und bei
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