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Missbraucht

Missbraucht

Titel: Missbraucht
Autoren: Reinhard Berk
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Schutz gegen den Regen, den Wind und die immer noch frischen, aber nicht mehr frostigen Temperaturen in die Reste von alten, verschmutzten Decken und Tüchern eingewickelt. Zu sehen waren nur die geschlossenen Augen und die kleine Nase, die ständig zu laufen schien. Ab und zu öffnete das Kind die Augen und schaute seiner Mutter geradewegs ins Gesicht. Dann glaubte Isabell ein Lächeln zu erkennen und zwangsläufig flossen die Tränen schneller über ihre Wangen. Für die zwanzigjährige Frau waren es die schlimmsten Momente während des Weges nach Baijush. Auf dem Rücken hatte sie ein hölzernes Tragegestell geschultert, an dem zwei Jutetaschen und ein winzig anmutender, abgewetzter Lederkoffer festgebunden waren, in die sie die Habseligkeiten ihrer Kinder gepackt hatte.
    Sie brachte es nicht fertig, sich umzudrehen. Sie wollte stark bleiben und trieb unentwegt mit harten Kommandos die hinter ihr laufende schmächtige Gestalt an, ihr zu folgen. Der kleine Junge hatte größte Mühe das Tempo zu halten. Vor über drei Stunden hatten sie sich auf den Weg gemacht, nur unterbrochen von zwei kurzen Pausen, um zu trinken und in ein Stück Brot zu beißen. Außer vier alten, klapprigen Militärfahrzeugen, die im Konvoi an ihnen vorbei fuhren, war ihnen niemand begegnet. Die Wirtschaft Rumäniens lag am Boden und die Gegend um Baijush, zählte zu den ärmsten des Landes. Übertroffen wurde der Landstrich in dieser Hinsicht nur von den Karpatenregionen im Osten, in denen die Zeit gänzlich stillzustehen schien und die wohl von der ganzen Welt vergessen waren. Die Lastwagen waren eine Sensation für den Jungen. Während im übrigen Europa Produkte und Güter in endlosen Schlangen von Lastkraftwagen über asphaltierte Straßen transportiert wurden, fand der Transport von Waren in diesem Teil des Kontinents, überwiegend mit Ochsenkarren statt. Mathaes Hände umklammerten während des ganzen Weges ein braunes Umhängetäschchen, in dem er ein verrostetes, altes Taschenmesser, eine kleine Blockflöte und eine aus Ton gebrannte Pferdefigur, die ein Bein verloren hatte, mit sich trug. Es war sein ganz persönliches Hab und Gut, das wichtigste was er besaß und auf das er, wie Millionen anderer Jungs in seinem Alter, nie und nimmer verzichten wollte. Seine kleinen Füße, die in alten, kaputten Turnschuhen steckten, versanken bei jedem Schritt bis zum Knöchel im Dreck. Aber er sagte kein Wort und nahm schweigend und demütig die Strapazen hin. Mathae Pomanescu war vier Jahre alt, als er diesen Weg mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester ging. Er war ein schweigsamer und duldsamer Junge. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen zu quengeln. Seine viel zu große Jacke, seine Mütze und seine zu lange Hose waren durchnässt, vom anhaltenden Nieselregen, aber von ihrem Sohn hörte Isabella keinen Laut des Klagens. Mathae war ein hübsches Bürschlein, mit dichtem schwarzen Haar und einer ebenen dunkel schimmernden Haut. Sein Körper wirkte zerbrechlich und deshalb schien er in seiner Kleidung wie verloren. Seine Mimik hingegen verriet trotz der weichen Gesichtszüge eine Ernsthaftigkeit, die erschauern ließ. Sogar die verdreckten und grotesk zusammengestellten Kleider vermochten seiner ganz besonderen Ausstrahlung nichts anhaben zu können. Aus diesem Eindruck heraus konnte man zu dem Schluss kommen, dass dem erschöpften und verletzlich wirkenden Jungen keine Strapaze, kein Leid und keine Entbehrung fremd waren.
    Isabell ging den schwersten Weg ihres Lebens. Selbst wenn sie unterwegs noch eine kleine Pause einlegte, um ein letztes Mal mit ihren Kindern ein Stück Brot und eine Ration Ziegenmilch zu sich zu nehmen, würden sie gegen Mittag am Ziel sein, ging es ihr durch den Kopf. Die Entscheidung war gefallen. Gegen ihre Kinder und für die Zukunft mit ihrem neuen Freund. Gheorge hatte sie vor die Wahl gestellt, entweder die Kinder oder ein Leben mit ihm zusammen am Rande von Bukarest. Er bot ihr eine kleine Zweizimmerwohnung mit fließendem kalten Wasser und malte Perspektiven in den buntesten Farben. Gheorge war ein Schwein, aber sie hatte sich entschieden. Ihre Kinder würden es unter der Obhut des Staates besser haben, sie kämen in ein Heim und hätten dort genug zu essen und zu trinken. Sie konnte ihnen das nicht geben. Noch einen solchen Winter würden sie nicht überleben, es fehlte an Essen, an Holz, an Kleidung und an Geld. Es fehlte einfach an allem. Seit sich der Vater der beiden Kleinen auf und davon gemacht hatte,
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