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Missbraucht

Missbraucht

Titel: Missbraucht
Autoren: Reinhard Berk
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war ihre Situation ständig bedrohlicher und auswegloser geworden. Wenn sie sich in den letzten Monaten nicht einmal pro Woche an die Polizeibeamten, der Station in Dobresti verkauft hätte, wären sie bestimmt schon in diesem Winter verhungert. Der Hurenlohn reichte gerade zum Überleben für sich und ihre Kinder. Die Demütigungen der Männer hatten sie von Mal zu Mal gefühlskälter werden lassen und in ihrem Entschluss bestärkt, die nächstbeste Chance zu ergreifen und ihr Leben zu ändern. Dann tauchte Gheorge auf, ein Fahrer aus Bukarest, der einmal die Woche nach Dobresti kam. Er bezahlte sie mit Milch und Mehl für schmutzigen Sex auf der Ladefläche seines kleinen Transporters und schwärmte ihr von seinem Leben in der Hauptstadt vor. Sie war eine leichte Beute für den großen, hageren Mann aus der Stadt. Nächste Woche, wenn er wieder kam, würde er sie mitnehmen und sie konnte endlich ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte, waren Nadia und Mathae. Ihre Kinder!
    Die Kirchturmuhr zeigte 12 Uhr 40, als sie auf dem großen Platz im Zentrum vom Baijush ankamen. Sie hatten eine weitere Pause eingelegt, um kurz auszuruhen und ein bisschen von ihrem Proviant zu essen und Ziegenmilch zu trinken. Isabell hatte Nadia ein letztes Mal sauber gemacht und ihr eine frische Stoffwindel angelegt. Das Mädchen schlief den ganzen Weg über und auch jetzt, auf dem mit Pfützen übersäten Platz hielt es die Augen fest geschlossen und atmete ruhig. Sie setzten sich auf eine aus losen Steinen aufgesetzte runde Bruchsteinmauer. Das Mäuerchen bildete eine Art Absperrung, zu einem mannshohen rötlichen Felsbrocken, dessen bearbeitete Vorderseite ein aufgedübeltes Bild, mit dem Konterfei des Conducators, des Führers Nicolea Ceausescu zierte. Mathae schwieg ebenfalls. Kein Wort von ihm, manchmal hob er den Kopf und sah seine Mutter auf eigenartige Art an. Gerade so, als wolle er fragen: "Warum tust du das Mama? Hast du uns nicht mehr lieb?"
    Wenn Isabell es bemerkte, beschlich sie ein beklemmendes Gefühl und sofort wich sie seinem Blick aus. Sie legte das Bündel mit ihrer Tochter Mathae vor die Füße. Der Junge beobachtete regungslos seine Mutter. Dann entledigte sie sich des Tragegestells und nahm aus dem Koffer zwei kleine, jeweils mit einem Stück Kordel versehene Holztäfelchen. Vorsichtig stülpte sie eines davon, auf dem mit einem Messer der Name Nadia eingeritzt war, über den Kopf des schlafenden Mädchens und küsste es auf die Stirn. Das Zweite mit dem Namen des Jungen hängte sie Mathae um den Hals. Die Täfelchen hatte Gheorge gefertigt. Er war es auch, der sie nach Baijushi geschickt und ihr eingebläut hatte, wie sie sich ihrer Kinder entledigen sollte. Sie gab ihrem Sohn ein Stück Brot in die Hand und drückte ihm ihren letzten Kuss auf die Stirn.
    "Versprich mir, dass du gut auf deine Schwester aufpasst, Mathae", sagte sie mit zittriger Stimme. Mathae sah sie aus großen Augen an und spürte, dass etwas Außergewöhnliches passierte. Tränen lösten sich und er musste schluchzen. Isabell unterdrückte mit Macht ihr Weinen und strich ihm noch einmal mit der Hand über die Wange. Sie stand ganz nah vor ihren Sohn und schaute ihn mit geneigtem Kopf von oben bis unten an. Über ihr Gesicht lief ein Zucken und die Tränen standen ihr in den Augen, aber sie weinte nicht. Isabell machte einen Knicks und bekreuzigte sich. Dann drehte sie sich ab und ging. Es war das letzte, was Mathae von seiner Mutter in Erinnerung blieb.

    *

22.06.1994
    Ihm hatte es die Stimmung richtig verhagelt. Wie kann man eine WM nur in die USA vergeben , fragte sich Kriminalkommissar Richard Mees und haderte schon den ganzen Tag mit Gott und der Welt. Zu allem Überfluss spielten die Deutschen am Vorabend nur 1:1 gegen Spanien, was ihn eine nicht unbeträchtliche Summe Geld kostete. Er hatte in seinem grenzenlosen Optimismus, natürlich auf einen deutschen Sieg gewettet hatte.
    Dem Morgen im Büro, versuchte er mit dem Abarbeiten liegen gebliebener Berichte, Anfragen und Stellungsnahmen einen Sinn zu geben, aber er brachte nichts Richtiges zustande. Meist war er damit beschäftigt, über die Flure des Präsidiums zu wandern, die Betriebsfähigkeit des Aufzugs zu testen und den Kollegen eine rege Betriebsamkeit vor zu gaukeln. Im Laufe der Jahre hatte er sich darin eine professionelle Routine angeeignet. Ein Grundsatz von ihm lautete deshalb: Gehe nie mit ohne Etwas in den Händen durchs Haus,
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