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Mimikry

Mimikry

Titel: Mimikry
Autoren: Astrid Paprotta
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bleiben die denn mit dem Sarg?«
    Niemand antwortete. Sie ging hinaus ins Treppenhaus; keiner hier oben. Sie lehnte sich gegen die Wand, drückte die Fingernägel in die Handflächen und schloß die Augen. Ihr Atem ging flach. Langsam bog sie die Finger wieder auseinander; Abdrücke von den Nägeln. Kinderlachen draußen. Ein Windstoß schlug die Tür zu.

6
    Der schreckliche Wind – man hörte doch nichts, wenn er heulte, keinen Streit im Haus, keine Schreie, nur den Wind. Flüsternde Nachbarn standen herum wie verlorene Kinder in der Kälte. Sie trauten niemandem, der keine Uniform trug, kramten Brillen hervor, wollten Ausweise sehen. »Sie sind zu jung«, sagte ein alter Mann zu Ina Henkel. »Sie haben doch noch einen Kollegen da oben, den will ich sprechen.«
    »Viel älter ist der auch nicht.« Sie räusperte sich, als der Mann sie empört anstarrte. »Was möchten Sie ihm denn sagen?«
    »Daß ich die Frau Bischof nicht weiter gekannt habe. Ich kenne sie nur vom Briefkasten. Da ist nichts vorgefallen.«
    »Am Briefkasten.«
    »Richtig«, sagte er. »Da war sie ganz normal.«
    »Haben Sie jemanden mit ihr gesehen?«
    »Den Mörder?« Der Alte hob einen Finger. »Der kommt nach fuffzehn Jahren frei. Darf werkeln im Gefängnis, basteln und kriegt einen Therapeuten.«
    »Kann sein«, sagte sie.
    Niemand hatte etwas gehört. Im dritten Stock hielt eine Frau ihren Dackel im Arm, als könne der sie schützen gegen das Böse in der Welt. »Wenn der Wind so geht, rappeln die Flurfenster, haben Sie’s gehört?«
    »Ich hab nicht drauf geachtet«, sagte Ina Henkel.
    »Wenn Sie hier wohnen, achten Sie drauf.«
    Ina Henkel sah an ihr vorbei in einen dunklen Flur. »Was ist Ihnen sonst aufgefallen?«
    Die Frau fummelte an einem verdrehten Ohr des Dackels herum. Der Hund nahm es hin. »Es stürmt doch seit Tagen«, sagte sie. »Sonst sind wir ein ruhiges Haus. Die Frau Bischof hab ich fast gar nicht gekannt.«
    »Nie mit ihr geredet?«
    »Man hat gegrüßt.« Der Dackel gähnte, und sie sah ihm aufmerksam zu. »Die Frau Bischof ist morgens gegen halb acht gegangen und abends gegen sechs kam sie nach Hause, manchmal auch später, mit Einkaufstüten. Sonntags ist sie so gut wie nie aus dem Haus. Samstags ging sie manchmal morgens in die Stadt, war aber am frühen Nachmittag wieder zu Hause. Man kriegt das ja mit.«
    »Kriegt man auch mit« – Ina Henkel ging einen Schritt zurück, als der Dackel seine feuchte Schnauze nach ihr reckte – »ich meine, haben Sie die Frau Bischof mit anderen Leuten gesehen?«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ist schrecklich, wir sind so ein ruhiges Haus, der Hund bellt nie.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Das ist ein ganz Braver, der macht alles mit den Augen. Wenn er fressen will, guckt er anders, wie wenn er müde ist. Vor ihm hatten wir einen Pudel, der hat immer ganz furchtbar –«
    »Danke«, sagte Ina Henkel.
    »Er bellt nie. Nur draußen, wenn er ein Weibchen sieht, es ist ein Männchen. Muß ich was unterschreiben?«
    Im Dachgeschoß trugen zwei Träger Julia Bischof aus ihrer Wohnung. Ina Henkel blieb am Flurfenster stehen. Der Sarg streifte ihren Rücken, und einer der Träger sagte zum anderen: »Net hudele.« Draußen flog eine Plastiktüte durch die Luft.
    Stocker klingelte an der Tür gegenüber, murmelte: »Ich hab was gehört, aber der macht nicht auf.« Frank Hilmar stand auf einem Keramikschild. Als sich nichts tat, ließ er den Daumen auf dem Klingelknopf.
    Schlüssel klirrten, von drinnen kam ein Fluch. Frank Hilmar war ein großer Mann um die Dreißig in enger Lederhose und weitem Sweatshirt. Er murmelte: »Was soll das?«
    Sie hielten ihm ihre Ausweise hin; er fragte: »Ja und?«
    »Es geht um Ihre Nachbarin«, sagte Stocker. »Frau Bischof.«
    »Hm, die ist tot, nicht?«
    »Ja, und deshalb möchten wir uns mit allen Nachbarn unterhalten. Dürfen wir rein?«
    »Warum?«
    »Ach Gott«, rief Stocker. »Soll jeder hören, was Sie sagen?«
    Hilmar ging rückwärts, behielt sie im Auge. In seinem Wohnzimmer lagen Hunderte von Zeitschriften auf dem Boden, bunte Hügel, die zur Decke wuchsen. Als Stocker gegen einen der Stapel stieß, fiel alles durcheinander, Reisekataloge, Pornos, Magazine.
    »So«, sagte Stocker.
    Ina Henkel sah zu, wie Hilmar ein paar Hefte mit dem Fuß beiseite schob. »Ist Ihnen nebenan etwas aufgefallen? Haben Sie was gehört, jemanden gesehen?«
    Hilmar starrte sie an wie ein Insekt. »Warum sehen die Buletten heute alle so aus, als würden
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