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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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Obhut.« Er hielt inne und holte mühsam Luft, als sei das Weitersprechen zu schmerzlich für ihn. »Du warst ein knappes Jahr alt. Bei ihrer Rückkehr hatte sie sich völlig verändert. Ich erkannte sie fast nicht wieder. Ihre Kleider waren konservativ und elegant. Sie war perfekt geschminkt und hatte ihr Haar zu einem Dutt aufgesteckt. Sie trug sogar hohe Absätze und hatte eine Perlenkette um den Hals. Ihr Blick war stumpf. So wie bei einem Menschen, der weiß, dass seine Tage gezählt sind. Sie war nicht mehr sie selbst.«
    »In welcher Hinsicht?«
    »Das ist jetzt reine Spekulation, aber sie hatte sich in der Kirche versteckt, damit niemand dich zu Gesicht bekam. Weil du so ein braves Baby warst, war das nicht weiter schwierig. ›Besorgt‹ ist nicht der richtige Ausdruck für die Angst, die ich bei ihr wahrnahm, als sie dich an diesem Tag ansah. Sie wollte dich nicht in den Arm nehmen und dich nicht berühren. Offenbar bereitete sie sich innerlich auf den Abschied vor. Ich folgte ihr in das kleine Zimmer, in dem sie sich eingerichtet hatte. Sie gab mir keine Erklärung für ihre Verwandlung, sondern fragte mich stattdessen, ob ich an den alten Brauch des Kirchenasyls glaubte. Dann zitierte sie Beispiele aus den Büchern in unserer Pfarrbücherei. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich hätte beinahe alles getan, um diesen Gesichtsausdruck zu verscheuchen. Sie nahm mir das Versprechen ab, eine Familie für dich zu suchen, die dich lieben und wie ein eigenes Kind großziehen würde. Falls ich keine finden sollte, müsse ich dich behalten und beschützen. Wir tauften dich, und sie bat mich, dein Pate zu sein. Außerdem musste ich ihr schwören, dir vor deinem sechzehnten Geburtstag die Wahrheit zu sagen, dir von ihr zu erzählen und dir ein Buch zu geben.«
    Ich merkte auf. »Ein Tagebuch?« Vielleicht hatte Juliets Mom ja auch Tagebuch geführt.
    »Nein, es ist ein Buch mit Sonetten. Zumindest steht das auf dem Einband. Es steckt auch eine CD darin.«
    »Hast du es nicht gelesen und dir die CD angehört?«, wunderte sich Tens.
    »Nein, sie hat mich gebeten, es nicht zu tun. Ich habe beides in ein Schließfach gelegt und in meinem Testament Anordnungen getroffen, falls mir bis dahin etwas zustoßen sollte.«
    »Und was geschah dann?«, flüsterte Juliet.
    »Sie hatte eine Verabredung, in der eine Entscheidung über deine Zukunft gefällt werden würde. Sie deutete an, sie wolle deinen Vater treffen, und ich musste ihr versprechen, ihr nicht zu folgen.«
    »Aber du hast es trotzdem getan?«, fragte ich.
    »Ich habe mit mir gerungen, aber, ja, ich bin ihr trotzdem gefolgt. Ich dachte, sie könnte vielleicht Hilfe brauchen. Die Hebamme hat sich um dich gekümmert. Sie war vertrauenswürdig.«
    »Und dann?«, sagte Juliet leise.
    In dem Versuch, sie zu trösten, drückte ich ihre Hand. Ich wusste, dass es sicher nicht leicht war, das zu hören.
    »Sie traf sich mit einer Frau. Herrisch, lackierte Nägel, dunkelhaarig. Die Frau packte sie am Arm und stieß sie ins Auto. Roshana weinte. Ich wollte etwas tun, etwas unternehmen, aber ich war wie gelähmt. Ich musste an dich denken.« Mit Tränen in den Augen blickte er Juliet an. »Sie fuhren an mir vorbei. Ich schaute deiner Mutter in die Augen. Sie nickte, als hätte sie mit meinem Erscheinen gerechnet, und formte mit den Lippen das Wort ›danke‹. Ich habe sie nie wiedergesehen.«
    Juliet wandte sich zu mir um. »Aber du kennst sie?«
    Wie sollte ich es ihr schonend beibringen? »Wie ich dir schon auf dem Fest erklärt habe, bin ich ihr auf der anderen Seite begegnet.«
    »Wovon?«
    »Des Lebens. Sie ist tot.« Ich sprach leise, als könnte ich die Wirkung meiner Worte durch einen sanften Tonfall abmildern.
    »Wirklich?« Juliet entzog mir ihre Hand. Offenbar begann sie nun, sich damit abzufinden.
    Tens nickte bestätigend.
    »Das habe ich mir gedacht«, meinte Tony.
    »Was geschah dann?«, erkundigte sich Rumi bei Tony.
    »Ich habe die Entführung bei der Polizei gemeldet. Doch sie konnten nichts tun und glaubten, sie sei einfach nur wieder weggelaufen. Oder ihre Eltern hätten sie gefunden. Wie ich schon sagte, war sie noch sehr jung, etwa in deinem Alter. Die Polizei hat mich nicht ernst genommen. Aber man kann niemandem einen Vorwurf machen. Es gab so wenige Anhaltspunkte. Nicht einmal ihr Name stimmte.«
    »Was soll das heißen?«, fragte Juliet.
    »Als ich der Polizei mitgeteilt habe, dass sie Roshana Ambrose heiße, konnten sie niemanden dieses Namens finden.«
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