Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
Vom Netzwerk:
Anschließend putzte sie die Bankreihen und räumte auf. Sie sah mir bei der Arbeit zu und machte es mir nach. Wir redeten. Unser gegenseitiges Vertrauen wuchs. Sie ging sehr gern spazieren. Stundenlang hielt sie sich im Freien auf, auch im Winter. Sie ging und dachte nach. Manchmal erzählte sie mir von diesen Gedanken, aber meistens unterhielten wir uns über Philosophie und Bücher. Sie war eine leidenschaftliche Leserin und begann, sich durch die Pfarrbücherei zu schmökern. Später brachte sie Möbel mit, die sie eingelagert hatte, um ihr Zimmer gemütlicher zu gestalten. Sie arbeitete in der Suppenküche, die wir betrieben, und ernährte sich von den Resten. Almosen lehnte sie ab. Wenn ich mich nach ihrer Familie erkundigte, war es, als würde eine Tür zugeknallt. Ich brachte sie zu einer Nonne, die auch Hebamme war, um sicherzugehen, dass es mit dir keine Probleme gab. Als sie mich endlich alarmierte, hatte sie schon stundenlang schweigend die Wehen ertragen. Starrsinnig und willensstark – es würde mich nicht wundern, wenn du diese Eigenschaften von ihr geerbt hättest.« Er lächelte. »Die Nacht deiner Geburt war magisch.« Dankend hob er die Hände zur Decke. »Um Mitternacht am Tag des Frühjahrsäquinoktiums, das zwischen dem dunkelsten und dem hellsten Tag des Jahres liegt.«
    »Nein, du irrst dich. Ich habe am 10. Februar Geburtstag«, unterbrach ihn Juliet.
    Tony war sich seiner Sache ganz sicher. »Nein, sie hat mich angefleht, dein Geburtsdatum geheim zu halten. Du warst ein großes, gesundes Baby. Ich hatte deine Mutter noch nie so fordernd erlebt. Und es war ja kein Problem, dich einen Monat älter zu machen, wenn die Leute nachfragten. Du hast nie geschrien und immer gelächelt.«
    »Warum hätte sie lügen sollen, was meinen Geburtstag angeht?« Juliet warf mir einen Blick zu.
    Tony schüttelte den Kopf und breitete die Hände aus. »Keine Ahnung. Es war ihr sehr wichtig. Ich nahm an, es hätte etwas mit deinem Vater oder ihrer Familie zu tun, über die sie nie sprach, und habe nicht weiter nachgefragt. Was konnte es schaden? Schließlich war es nur ein Datum und bedeutete ihr offenbar viel.«
    »Ich glaube, sie hat gelogen, um dich vor den Bösen zu beschützen«, warf ich ein. »Menschen wie wir werden an bestimmten Tagen geboren. In meiner Familie ist es die Wintersonnenwende, wenn sie auf den Einundzwanzigsten fällt. Und bei dir ist es offenbar die Frühjahrstagundnachtgleiche. Wenn sie wusste, wer du bist, und wenn sie auch zu uns gehörte, wollte sie dich vielleicht verstecken, indem sie allen weismachte, du seist an einem völlig anderen Tag geboren.«
    »Oh.« Juliet blinzelte. »Was ist mit meinem Vater?«, wandte sie sich dann an Tony.
    Tonys Blick wurde traurig. »Dazu kann ich leider nichts sagen. Sie hat nie darüber gesprochen. Du musst verstehen, dass sie bei ihrer Ankunft in der Kirche völlig verstört und traumatisiert war. Es dauerte Wochen, bis ich überhaupt ihren Namen erfuhr und mich bewegen konnte, ohne dass sie zusammenzuckte. Ich musste eine Beziehung zu ihr aufbauen, damit sie sich von mir helfen ließ. Ständig befürchtete ich, sie könnte davonlaufen und schwanger auf der Straße landen. Aber sie verhielt sich nicht wie ein Straßenkind, eher wie jemand, der sich vor etwas Schrecklichem versteckt.«
    »Hat sonst noch jemand die Schwangerschaft bemerkt?«, fragte ich.
    »Wenn ja, hat niemand ein Wort darüber verloren. Anfangs trug sie übereinandergeschichtete weite Sachen. Je näher deine Geburt heranrückte, desto mehr blieb sie in ihrem Zimmer und ließ sich nur noch nachts draußen blicken, wenn die Kirche fast leer war.« Er drehte sich zu Juliet um. »Deine Mutter hat dich geliebt. Sie hat dich vergöttert. Nie habe ich eine liebevollere Mutter gesehen, nicht einmal unter den Frauen, die mit einem Dutzend reizender Schätzchen zur Tür hereinkamen. Sie hat alles für dich getan und sich nie beklagt, du würdest ihre ganze Zeit und Kraft verbrauchen. Nur selten hat sie dich abgesetzt, und du hast dich gern in einem Tragesack durch die Kirche schleppen lassen. Du warst ihr ein und alles.« Sein Lächeln wurde breiter, verflog dann aber.
    »Was geschah danach?«, fragte ich, als mir das Schweigen zu lange dauerte.
    »Sie hatte Sorgen. Immer wieder habe ich sie dabei beobachtet, wie sie dakniete, leise Selbstgespräche führte und betete.«
    Juliet schluckte. Die Anspannung im Raum wuchs.
    »An jenem letzten Tag ließ sie dich einige Stunden in meiner
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher