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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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Er wirkte verzweifelt. »Also bin ich in die Kirche und zu dir zurückgekehrt. Auf meinem Schreibtisch lag ein Brief, den sie für mich hinterlegt hatte. Darin stand, die Wahrheit würde meinen gesamten Glauben in Frage stellen und einen neuen Glauben von mir verlangen. Allerdings könne sie mir nicht erklären, wie es enden würde, weil sie es selbst nicht wisse. Sie befürchte, dass sie nicht wiederkommen würde, und bat mich noch einmal, auf dich zu achten und dich zu beschützen.«
    »Aber wie …?«, entsetzte sich Juliet.
    »Wie du in dieser Hölle von einem Heim gelandet bist?«, ergänzte Tens.
    Sie nickte.
    Tony fuhr fort. »Ich habe dich bis kurz nach deinem sechsten Geburtstag großgezogen und Dutzende von Fotos von dir gemacht. Ich wollte jeden Moment für deine Mutter festhalten. Aber irgendwann habe ich aufgegeben, weil kein einziges Foto gelungen ist.«
    »Das ist auch eine Eigenart von Fenestrae«, fügte ich hinzu.
    »Was?« Juliet drehte sich zu mir um.
    »Filme und selbst Digitalkameras können eine Fenestra nicht abbilden. Sie fangen nur das Licht ein statt unsere menschliche Gestalt. Doch sobald wir unsere Gabe im Griff haben, können wir uns auch fotografieren lassen.«
    »Funktioniert es bei dir?«
    »Keine Ahnung. Früher ging es nicht, und in letzter Zeit habe ich es nicht mehr versucht.«
    Offenbar war Juliet so überwältigt, dass sie die Dinge, mit denen wir sie bombardierten, nicht mehr in Frage stellte. Es war, als hätte sie den Punkt überwunden, es lächerlich zu finden, und nähme nun alles, wie es kam. »Bitte sprich weiter«, forderte sie Tony auf. »Wie bin ich hier gelandet?«
    »Dich nicht adoptieren zu dürfen war einer der Gründe, warum ich das Priesteramt aufgegeben habe. Als du noch ganz klein warst, habe ich mich ins Waisenhaus und die Schule versetzen lassen, um mich an deiner Erziehung beteiligen zu können. Zusammen mit den Nonnen. Du warst wie mein eigenes Kind, Juliet. Ich habe nach der richtigen Familie für dich gesucht. Wir waren ein paarmal ganz nah dran, doch immer ging etwas mit den Papieren schief. Einmal hast du mir ein totes Kätzchen gebracht und gefragt, ob du es behalten dürftest – ich stand gerade mit potenziellen Eltern beisammen, die das gruselig fanden. Du warst so ein ernstes Kind, immer draußen und dauernd damit beschäftigt, Tiere zu heilen, die von Autos angefahren worden waren. Die Heiligen und ihre Geschichten haben dich fasziniert. Du hattest ein Lieblingsstofftier namens Tiger.«
    »Eine Katze?«, erkundigte ich mich.
    Tony nickte. Ich fragte mich, ob Minerva deshalb in dieser Gestalt aufgetreten war. Juliet empfing Trost von einer Katze. Ich erkannte an Tens’ nachdenklicher Miene, dass er dieselbe Vermutung hatte.
    Tony sprach weiter. »Irgendwie haben wir es geschafft. Ich wusste, dass die anderen Gemeindemitglieder manchmal darunter zu leiden hatten, aber in erster Linie fühlte ich mich dir verpflichtet. Es gab Momente, in denen ich glaubte, Gott selbst habe dich als Dank für meine Frömmigkeit und die überstandenen Prüfungen in meine Obhut gegeben. Und eines Tages musste ich übers Wochenende nach New York. Ich ließ dich bei derselben Nonne, der ich immer vertraut hatte. Vor meiner Abreise teilte der Bischof mir mit, die Schule werde geschlossen und wir alle würden auf verschiedene Einrichtungen verteilt. Es hatte einen Skandal mit einem anderen Priester gegeben. Die Sache war ziemlich hässlich. Also beschloss ich, nach meiner Rückkehr aus New York fortzugehen und dich mitzunehmen. Ich hatte vor, mich an Tyee zu wenden.«
    »Aber du hast es nicht getan«, stellte Tens fest.
    »Nein.« Tony erhob sich und fing an, auf und ab zu gehen. »Bei meiner Rückkehr herrschte Chaos. Meine Freundin, die Nonne, war tot. Herzinfarkt. Und du warst fort. Die anderen Nonnen sagten, eine Frau sei erschienen, die behauptet habe, deine Großmutter zu sein. Als sie ihr nicht glaubten, zeigte sie ein von mir unterzeichnetes Schreiben vor, in dem stand, es sei in Ordnung, das Kind herauszugeben. Ich sei in New York aufgehalten worden. Sie hinterließ eine Adresse und ihre Kontaktdaten. Natürlich war der Brief nicht von mir.«
    »War es dieselbe Frau?«, fragte ich.
    »Wie die, die mit Roshana weggefahren war? Nach der Beschreibung der Nonnen zu urteilen, ja.«
    »Hast du die Kontaktdaten überprüft?«, fragte Tens.
    »Frei erfunden?«, mutmaßte Rumi.
    Tony nickte. »Das angegebene Haus stand leer. Ich habe dich gesucht, Juliet, und nie
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