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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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von Minervas Fell gedämpft.
    Tony räusperte sich, und Erinnerungen zeichneten sich in seinem Gesicht ab. »Ihr Name war Roshana Ambrose. Sie hat dich sehr geliebt.«
    »Roshana?«, wiederholte Juliet.
    Tony nickte. »Damals war ich noch Vater Anthony. Roshana kam stets spätnachts in die Kirche, wenn sie menschenleer und erfüllt vom Geist des Herrn war. Ich liebe es bis heute, nachts in einer Kirche zu sein. Und so erfand ich meine eigenen Gebete, führte Gespräche mit Gott und übergab ihm in den Stunden rund um Mitternacht meine Sorgen. So haben wir uns kennengelernt. Eines Nachts nach Dreikönig kam sie hereingestolpert. Ein Verhalten und eine Ausstrahlung wie bei ihr habe ich schon oft in einer Kirche erlebt. Die eines Menschen, der auf der Suche ist. Nach dem Glauben und nach Antworten. Der aber nicht weiß, an wen er sich wenden soll. Eine begonnene Seelensuche. Ich habe sie begrüßt und sie dann in Ruhe gelassen.«
    »Wie sah sie aus?«, fragte Juliet.
    »Wie du.« Er lächelte. »Vielleicht war sie ein paar Zentimeter größer, aber ihr habt das gleiche blonde Haar und die gleichen Augen. Und die gleichen Schultern, auf denen alle Last der Welt zu ruhen scheint.«
    Juliet nickte. Ihr Blick war auf die Zeichnung von Minervas Fell gerichtet. »Weiter.«
    Tony fuhr fort. »Sie hatte einen Rucksack bei sich, was nicht ungewöhnlich war, und als ich mich umdrehte, war sie fort.« Er wedelte mit der Hand. »Am nächsten Abend kam sie wieder. Saß in derselben Bankreihe und hatte dieselben Sachen an. Derselbe Gesichtsausdruck. Ich begrüßte sie wie am Vortag und machte mich an die Arbeit. Und wieder verschwand sie.«
    Mit angehaltenem Atem lauschten wir Tonys Geschichte. Selbst Custos und Minerva hörten gebannt zu.
    »Am dritten Abend legte ich für alle Fälle eine Wasserflasche und ein Sandwich in die Bankreihe. Ich hatte so ein Gefühl, dass sie Hunger haben könnte. Sie kam wieder und bedankte sich bei mir für das Essen. Und wieder gingen wir beide unserer Wege. Das dachte ich wenigstens. Als ich die Sakristei abschließen wollte, stellte ich fest, dass sie in der Bankreihe eingeschlafen war. Ich brachte es nicht über mich, sie zu wecken, und wollte sie auch nicht allein lassen. Also legte ich mich in eine Bankreihe auf der anderen Seite des Mittelgangs und döste ein wenig, während sie schlief. Sie hatte einen Alptraum. Ich wurde von ihren Schreien geweckt. Im Schlaf ließ sie sich von mir umarmen und trösten. Wie eine Tochter, ein Kind. Sie war noch jung, so jung wie du. Und so voller entsetzlicher Angst.«
    Juliet tastete wieder nach meiner Hand und umklammerte sie. Offenbar kannte sie Alpträume aus eigener Erfahrung.
    »Bald trafen wir uns jeden Abend. Ich brachte ihr Kleider und Essen mit. Über kurz oder lang war ihre Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen. Beinahe über Nacht wurde es plötzlich offensichtlich. Sie hatte einen Körperbau wie du, der es gut wegsteckt, ein Kind auszutragen. Allmählich vertraute sie mir ihre Gedanken und Fragen an. Es wurden Gespräche daraus, und nach einigen Wochen ließ sie sich von mir in ein Hinterzimmer führen, das von der Orgelempore abging. Früher waren dort Instrumente und Bücher gelagert worden, doch nun stand es leer und eignete sich großartig als Rückzugsort. Ich gab ihr einen Schlüssel und zeigte ihr auch die Räume, wo wir durchreisende Nonnen unterbrachten, damit sie duschen und ihre Kleider waschen konnte. Sie weinte. Es war, als wäre noch nie jemand gut zu ihr gewesen.«
    »Was wolltest du von ihr?«, fragte Juliet.
    »Wie bitte?« Tony wirkte ehrlich verdattert.
    »Warum hast du ihr geholfen?« Mir war klar, dass Juliet nicht unhöflich sein wollte. Sie begriff tatsächlich nicht, warum er eine fremde Frau unterstützt hatte.
    Tony beugte sich vor, ohne den Blickkontakt mit Juliet zu unterbrechen. »Ich hätte dasselbe für jeden getan. Die Obdachlosen schliefen oft in den Bankreihen, wenn die Notunterkunft unten überfüllt war. Das gehörte zu dem Eid, den ich Gott geschworen hatte. Es ist Teil meines Glaubens.«
    »Aber du hast mehr getan als das.«
    »Ich habe gebetet und hatte das Gefühl, dass ein größerer Plan dahintersteckte. Ich empfand es als richtig, ihr zu helfen, und wollte ihr nur Trost und Geborgenheit spenden. Es steckten wirklich keine anderen Motive dahinter.« Tonys Miene war ernst.
    Seine Antwort schien Juliet zufriedenzustellen. Sie nickte ihm zu.
    Tony fuhr fort. »Sie gewöhnte sich an, zur Messe zu kommen.
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