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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen
Autoren: Amber Kizer
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Leidensgenossen zu stellen. Sie wusste zwar, dass man mit sechzehn aus dem Dunklebarger in ein Internat oder eine Berufsausbildung wechselte, doch man hatte ihr noch nicht mitgeteilt, welche Lösung für sie vorgesehen war. Nun stand ihr sechzehnter Geburtstag vor der Tür, und Juliet hatte sich trotz einiger neuer Freunde noch nie so allein gefühlt wie jetzt, als sie die Tage bis zum 10 . Februar zählte. Sie wagte nicht, die Heimleiterin auf ihre Zukunft anzusprechen.
    Juliet träumte von den Lichtern der Großstadt und von Verkehrslärm. Vom Geruch einer Bäckerei in den frühen Morgenstunden, dem Geschmack einer Weihnachtsgans und der Oberfläche eines Seeigels direkt aus dem Meer. Sie träumte von Menschen, die sie seit dem Anbeginn der Zeit kannte, ohne ihnen je begegnet zu sein. Im Schlaf sah sie Gesichter und Bilder, die sie im Wachzustand nicht hätte beschreiben können. Sie kannte Kochrezepte und geheime Zutaten und konnte instinktiv fast jedes Gericht zubereiten, das ein im DG verstorbener Gast jemals gegessen hatte. Manchmal fühlte sie sich, als hätte sie den Verstand verloren – so, als hätte sich eine Menschenmasse in ihrem Kopf eingenistet. Wie eine Marionette, die verzweifelt versuchte, sich eine idyllische Zukunft voller Süße, Würze und Überfluss zusammenzurühren.
    Im Wachzustand malte sie sich aus, wie sie mit sechzehn die Kleinen an einen warmen, sicheren und freien Ort mitnahm und dann das DG ansteckte. Vorzugsweise während sich die Heimleiterin im Gebäude aufhielt. Doch nach einer Weile hoffte sie nur noch, die Stürme zu überstehen, die die Felder und Farmen in Indiana peitschten, wenn ein später Winter mit einem vorzeitigen Frühjahr zusammenstieß. Die Tornados, die alles zerrissen und ausweideten und den Himmel in einen erbsengrünen Brei verwandelten. Die Blitze, die Silos sprengten, panische Rinder in die Flucht jagten und Feuer entfachten. Den Hagel, der die Maisschösslinge zermalmte und Bäche und Flüsse über die Ufer treten ließ.
    Weil die Heimleiterin Besorgungen machte und Nicole die anderen Kinder beaufsichtigte, hatte Juliet jämmerliche zehn Minuten für sich allein. Sie steckte die Zehen in das fröhlich schäumende Wasser des Wildcat Creek, der hinter dem DG plätscherte, stützte den Kopf auf die Knie und brach in Tränen aus. Juliet war sicher, ganz allein auf der Welt zu sein. Aber die Rettung nahte. Ihr Leben, wie sie es kannte, würde sich von Grund auf ändern.
    Im Schatten saßen nebeneinander zwei Verbündete, nicht gefesselt an Zeit, Raum und irdisches Wissen, und beobachteten sie aufmerksam. Die unbemerkten Augenpaare gehörten
Felis catus
und
Canis lupus.

[home]
    K apitel 1
    F ahrranfahrranfahrran!«, rief ich genervt, als wir den Rand einer weiteren Kleinstadt erreichten.
    Wenn ich in dieser Schrottlaube von einem Pick-up noch über eine einzige Bodenwelle oder ein Schlagloch rumpeln musste, würde ich den Verstand verlieren. Tens und ich hatten vor gut drei Wochen die Verheerung in Revelation, Colorado, hinter uns gelassen, um uns der gottgegebenen Aufgabe zu widmen, andere Fenestrae zu suchen. Also Menschen, Mädchen, wie ich eines war. Und auch Wächter wie Tens. Offenbar gab es irgendwo in Indiana jemanden, der unsere Hilfe brauchte.
    »Bittebittebitte!« Inzwischen war es Ende Januar. Seit Jaspers Enkelin uns den Zeitungsartikel über die Katze, die Todesfälle vorhersagen konnte, und das Mädchen, das man Gevatterin Tod nannte, gebracht hatte, war also ein knapper Monat vergangen.
    Im holpernden, schwankenden Pick-up war Nachdenken unmöglich. Außerdem war ich nicht bereit, auch nur eine Sekunde länger Heustaub, getrocknete Schlammkrümel und die Frühlinge vieler vergangener Jahrzehnte zu inhalieren. »Wir sind jetzt schon eine Ewigkeit unterwegs, Tens. Fahr rechts ran!«, rief ich.
    Unbeirrbar wie immer, wandte Tens den Blick nicht von der Straße ab. »Meridian, wir sind fast da. Heute war es doch gar nicht so lange. Du über…«
    Ich fiel ihm ins Wort. »Es war lange genug. Ich muss mir die Beine vertreten. Nur eine Minute. Hier wäre es gut.« Als wir an einem Schild mit der Aufschrift
Willkommen in Carmel, Indiana
vorbeikamen, streckte ich die Hand nach dem Türgriff aus.
    »Hier?« Er wurde zwar langsamer, hielt aber nicht an.
    Ich musste raus.
Sofort.
    »Hier.« Ich sprang aus dem Wagen. Während Tens am Straßenrand parkte, atmete ich die warme, vom Frühling kündende Luft ein und keuchte und schnaufte, als wäre ich gerannt,
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