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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
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einer Ecke stand eine große Kiefer. Auf dem gefrorenen Rasen lag ein Benzinkanister. Er hatte keinen Verschluss mehr.
    Die Haustür stand offen. Drinnen war die Luft stickig. Von einem alten Herd, auf dem Haferbrei übergekocht war, stieg schwarzer Rauch hoch. Der Gestank vermischte sich mit dem üblen Geruch, der schon vorher da gewesen war. Die Küche und das ganze Haus waren völlig verdreckt. Überall stapelten sich Zeitungen auf dem Fußboden. Schmutziges Geschirr stand herum, und schäbige Kleidungsstücke hingen entweder an irgendwelchen Haken oder lagen auf den Möbeln. Bis auf den Schein der Straßenlaternen, der zu den Fenstern hereindrang, und ein schwaches Licht, das durch die Tür aus einem kleinen Nebenzimmer ins Wohnzimmer fiel, war das Haus dunkel.
    Dieses Zimmer war mit allem möglichen Kram voll gestopft. Es hatte keine Fenster, und von der Decke hing eine nackte Glühbirne. Auf dem Schreibtisch stand eine alte grüne Lampe, die sich über die Schreibfläche zu beugen schien, als hätte sie Angst, hochzublicken. Von ihr kam der Lichtschein. Auf dem Schreibtisch lagen Stapel von Büchern und Zeitschriften neben Tintenfässchen und teuren Füllfederhaltern. Aus einem alten Plattenspieler drang Musik, Dvořák. Die Neue Welt.
    Am Schreibtisch saß ein alter Mann in einem dicken roten Hausmantel, der zwar verschlissen war, aber warm aussah. An den Füßen trug er Filzpantoffeln. Die Hände mit den schmalen Fingern und überlangen Nägeln waren totenbleich. Seine Halbglatze war von farblosen Haarbüscheln umrahmt, die bis auf die Schultern hinunterhingen. Die Augen waren klein. Ein einige Tage alter Bart verhüllte einen Teil des Gesichts. Der Mann war auf dem Stuhl festgebunden und klatschnass. Er roch nach Benzin.
    Eine kleine Benzinlache hatte sich unter ihm gebildet. Und von ihr führte eine Spur bis ins Wohnzimmer hinein. Die entzündliche Flüssigkeit war offenbar über Wände, Möbel und Kleiderhaufen gekippt worden. Auch in der Küche und in der Diele war Benzin. Der Mann auf dem Stuhl rührte sich nicht. Er gab keinen Laut von sich und machte keinen Versuch, sich zu befreien. Er schien ruhig abzuwarten, was da auf ihn zukam, so, als hätte er sich damit abgefunden, dass er das, was ihm bevorstand, verdient hätte. Er schien auf eine merkwürdige Weise mit der Welt im Reinen zu sein.
    Mit leisem Zischen flammte das Streichholz auf. Der Mann auf dem Stuhl blickte starr vor sich hin. Nun liefen Tränen über seine Wangen, aber er bäumte sich nicht auf. Er wiegte sich nur vor und zurück, und seine Lippen bewegten sich zu der Melodie eines Kinderlieds, das er vor sich hin summte, wie um sich zu beruhigen.
    Das brennende Streichholz wurde dem alten Mann zwischen die Finger geschoben, er hielt es eine Weile fest, bevor er es zu Boden fallen ließ. Das Feuer flammte sofort auf und umhüllte den Mann, den Stuhl und den Schreibtisch. Es züngelte blitzschnell über den Fußboden ins Wohnzimmer und die Wände hinauf. Im Handumdrehen brannte das Haus lichterloh. Die Fensterscheiben zersprangen, und die Flammen schlugen in die Nacht hinaus. Der Mann versuchte aufzustehen, kippte aber nach hinten durch die Tür in das lodernde Flammenmeer im Wohnzimmer.
    Die Wände des Wohnzimmers waren vom Boden bis zur Decke mit eingerahmten Fotografien bedeckt, die sorgfältig in Reihen angeordnet waren. Sie schienen das Einzige zu sein, was in diesem Haus pfleglich behandelt worden war. In den ältesten Rahmen befanden sich ovale, schwarzweiße Porträtfotos von Jugendlichen, deren Namen in geschwungener Schrift unter den Fotos eingetragen worden waren. In der Mitte hing das Foto eines Schulgebäudes. Diese Art von Erinnerungsfotos war irgendwann aus der Mode gekommen und Gruppenfotos an ihre Stelle getreten. Auf ihnen waren die Schüler in zwei oder drei Reihen aufgestellt, und der Klassenlehrer stand neben ihnen. Auf den älteren Bildern hatten die Kinder Sonntagskleider an und sahen geschniegelt und gestriegelt aus, die Jungen mit glatt gekämmten Haaren und die Mädchen mit Zöpfen. Auf den älteren Bildern hatten die Fotografen versucht, eine gewisse Harmonie zu erzielen, und die Schüler nach Geschlecht und Größe aufgestellt. Die erste Reihe saß auf dem Boden, die mittlere auf Stühlen, die dritte Reihe stand dahinter. Auf den neueren Bildern hatten sich die Schüler aufgestellt, wie es der Zufall ergab, und für die Klassenaufnahme zog man sich nicht mehr extra fein an. Auf den Bildern wurde viel gelächelt,
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