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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
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kleine Lächeln, breite Lächeln, schüchterne Lächeln, und einige lachten sogar. Man konnte nicht nur die Veränderungen der Mode aus den Bildern ablesen, sie zeugten auch von einer anderen Einstellung. Auf den älteren Bildern schauten die Kinder erwartungsvoll in die Zukunft; sie standen diszipliniert, ordentlich und ein wenig schüchtern vor der Kamera. Auf den jüngsten Bildern aber ging es lockerer und weniger diszipliniert zu, man schien keine Ehrfurcht mehr vor diesem Augenblick zu haben, vielleicht auch nicht mehr vor der Tradition oder dem Schulgeist. Auf allen Bildern, die jetzt eins nach dem anderen den Flammen zum Opfer fielen, war derselbe Lehrer zu sehen. An ihm waren ähnliche Veränderungen festzustellen wie an seinen Schülern. Die ältesten waren Klassenfotos aus der Zeit, als er selbst noch zur Schule gegangen war, und dann kamen die Bilder, auf denen er als Lehrer bei seiner ersten Klasse stand, im Anzug mit schmaler Krawatte, und das dünne Haar war zur Seite gekämmt. Hornbrille. Die Zukunft lag vor ihm. Später trug er eine abgewetzte Strickjacke, sah mitgenommen aus, und die Haare hatten sich stark gelichtet. Auf einem von den älteren Bildern stand er über einem Schüler, der nicht in die Kamera blickte, sondern zu seinem Lehrer aufschaute. Dieser Junge war Daníel.
    An den Stuhl festgebunden lag der alte Lehrer auf dem Boden und spürte, wie sein Leben in Flammen aufging.

Drei
    Pálmi stand bei dem zerbrochenen Fenster und schaute zu Daníel hinab. Dann drehte er sich um und lief zu den Aufzügen. Keiner von ihnen war oben, deswegen nahm er die Treppe und rannte hinunter. Er bildete sich ein, eine Bewegung gesehen zu haben, ein Hoffnungsschimmer durchzuckte ihn. Er flog von einem Treppenabsatz zum anderen, schoss aus dem Haus und rannte zur Kellertreppe hinter dem Gebäude. Aber er hätte sich nicht beeilen müssen. Daníel war tot. Es gab kaum einen Knochen in seinem Körper, der nicht gebrochen war.
    Er setzte sich in den Schnee und sah zu, wie die Schneeflocken auf Daníel fielen. Er saß noch da, als Polizei und Krankenwagen eintrafen. Niemand nahm Notiz von ihm. Daníels Leiche wurde in den Krankenwagen getragen, der sich dann langsam in Bewegung setzte. Selbstmorde wurden wie Kriminalfälle behandelt, und die Beamten der Kriminalpolizei vernahmen die Belegschaft, die Ärzte und Pálmi, obwohl es kaum etwas zu sagen gab. Die Nachricht, dass Daníel tot war, sprach sich schnell unter den Patienten herum. Stille senkte sich über das düstere Gebäude.
    »Daníel war eigentlich ganz in Ordnung«, sagte ein älterer Aufseher, der schon lange an der Klinik tätig war und sich um Daníel gekümmert hatte. In der Cafeteria für die Belegschaft hatten sich einige der Aufseher und Krankenpfleger an einen Tisch gesetzt und redeten mit Pálmi, der im Grunde genommen immer noch nicht begriffen hatte, was passiert war. Er hatte keine Kraft, zu gehen. Weg. Oder nach Hause. Irgendwohin.
    Jemand vom Personal hatte ihn aus dem Schneetreiben geholt und ins Haus gebracht. Die Kriminalpolizei hielt sich nicht lange auf. Der Fall lag auf der Hand. Aufruhr in der psychiatrischen Klinik. Selbstmord. Es gab viele, die bezeugen konnten, dass Daníel sich aus dem Fenster gestürzt hatte, es war kein Unfall gewesen. Er hatte es vorgehabt.
    »Was ist denn eigentlich vorgefallen?«, fragte Pálmi geistesabwesend. Er beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte eine angenehme und klare Stimme, lispelte jedoch ein wenig.
    »Daníel war in den letzten Wochen irgendwie anders«, sagte der Aufseher, ein freundlicher Mann um die fünfzig mit dichtem Haarschopf, großer Nase und fleischigem Gesicht. Er hieß Guðbjörn.
    »Er war eigentlich immer ziemlich unruhig, sodass wir ständig mit ihm zu tun hatten. Du weißt selbst, wie er war, wenn er sich weigerte, seine Medikamente zu nehmen, und den anderen Patienten immer erklärte, sie seien völlig gesund. Er konnte total über die Stränge schlagen. Aber in letzter Zeit war er wie ausgewechselt, er lief nur völlig apathisch herum und hat mit niemandem gesprochen.«
    »Ich bin aber doch jede Woche hierher gekommen. Auch letzte Woche. Und mir ist überhaupt nichts aufgefallen. Stimmt, er war ganz ruhig, aber so war er doch häufig. Er hat ungewöhnlich viel über alle hier im Haus geredet. Was meinte er damit, als er euch ›Scheißkerle‹ nannte?«
    »Es hat ihm doch immer Spaß gemacht, uns schlecht zu machen und uns alles Mögliche vorzuwerfen«,
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