Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
in der Gosse aufgefunden worden war. Er schien mit einem Mal keinen Schlaf mehr zu brauchen. Nach einiger Zeit behauptete er, Stimmen zu hören, und unterhielt sich oft mit seinen Phantasiegebilden und Halluzinationen. Nächtelang las er Bücher, statt zu schlafen. Der Inhalt spielte offenbar überhaupt keine Rolle. Er verschlang nicht nur alles, was ihm in die Finger kam, sondern behielt es auch und hatte deswegen auf den ungewöhnlichsten Gebieten ein unglaubliches Wissen. Morgens nickte er dann meist ein und schlummerte für ein paar Stunden. Seine Mutter stand dem Ganzen völlig hilflos gegenüber. Sie schob das alles auf die schlechte Gesellschaft, in die er geraten war, auf seine Klasse. Daníel fing sogar auf dem Gymnasium an, hielt aber nicht lange durch. In dieser Zeit wurde er mit einem Mal sehr gläubig, ohne dass er sich zuvor auch nur im Geringsten für Religion interessiert hatte. Die religiösen Botschaften, die ihm diese Stimmen zu übermitteln schienen, hatten ihn in eine besondere Position im Universum versetzt. Er las in der Zeitung, dass man seltsame Zeichen am Himmel gesehen habe, wahrscheinlich einen Meteor, der Funken sprühend in der Atmosphäre verglüht war, und er bildete sich ein, dass er selbst dieser verglühende Meteor gewesen war, der zur Erde fiel. Weil man ihn aus dem Paradies vertrieben hatte. Um wieder aufgenommen zu werden, musste er bereuen und Buße tun. Die schlimmsten Seelenqualen, die er in den folgenden Jahren durchlitt, hingen mit diesem verlorenen Paradies zusammen.
    Daníel selbst begriff damals die Veränderungen an sich nicht, und er akzeptierte nicht, dass er krank war. Er war, ganz im Gegenteil, davon überzeugt, den gesündesten Verstand von allen zu haben. Seine Reaktion, als seine Mutter in ihrer Angst und Sorge einen Arzt zu Rate zog, war extrem gewesen. Er wurde überheblich und aufsässig, und von Jahr zu Jahr verschlimmerte sich sein Zustand. Zuletzt war er unfähig, einer Arbeit nachzugehen. Schließlich wurde er gewalttätig. Und er versuchte, Hand an sich zu legen. Dann fiel er eines Tages über Pálmi her und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass Pálmi das Bewusstsein verlor. Als die Mutter Pálmi zu Hilfe kommen wollte, griff Daníel nach einem Küchenmesser, stach ihr in die Schulter und rannte auf die Straße. Seine Mutter hatte sich lange dagegen gesträubt, ihn einliefern zu lassen, aber als er ein weiteres Mal über Pálmi herfiel, kam nichts anderes mehr in Frage.
    Das war vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Die Mutter war vor sieben Jahren gestorben, und seitdem lebte Pálmi allein.
    Daníel war für die Ärzte ein klassischer Fall von Schizophrenie, doch was seiner Mutter zu Lebzeiten das meiste Kopfzerbrechen verursachte, war die Tatsache, dass es sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits keinerlei Fälle von Geisteskrankheit in den Familien gab. Sie war davon überzeugt, dass Schizophrenie erblich bedingt war. Aber nun trat die Krankheit urplötzlich bei ihrem Jungen auf und machte ihr das Leben zur Hölle. Sie weinte oft vor Verzweiflung, denn sie hatte ihm immer sehr nahe gestanden – bevor die Krankheit über ihn hereinbrach.
    Pálmi saß mit seinem Tee im Wohzimmer. Er massierte sich die rechte Hand und verzog das Gesicht, so, als würde er noch jetzt Schmerzen verspüren. Die Hand war mit Brandnarben übersät, er konnte weder den kleinen Finger noch den Ringfinger bewegen.
    Ihre Familie hatte nur aus ihnen dreien bestanden. Der Vater war kurz nach Pálmis Geburt gestorben. Er war Seemann gewesen und in einem schlimmen Orkan vor der Westküste des Landes über Bord gegangen. Pálmi kannte ihn einzig und allein aus den Erzählungen seiner Mutter, denen zufolge es auf dem ganzen Erdenrund keinen besseren Mann gegeben hatte. Sogar seine Fehler hatten im Laufe der Zeit nur noch positive Seiten und boten Stoff für unterhaltsame Geschichten. Ein Beispiel dafür war seine Trinkerei. Er war Quartalssäufer gewesen, aber im Lauf der Jahre wurden diese Eskapaden als Abenteuerdrang und als Bedürfnis nach geselligem Beisammensein mit Freunden verklärt. Keiner von diesen zahlreichen »Freunden« setzte sich aber nach seinem Tod mit der allein stehenden Mutter und ihren zwei Kindern in Verbindung. Die Eltern von Pálmis Vater waren nicht mehr am Leben, und Geschwister hatte er keine gehabt.
    Ihre Mutter war schon sehr jung von zu Hause fortgegangen und hatte zu ihren Eltern, die nach Dänemark gezogen waren, kaum mehr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher