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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne
Autoren: Arnaldur Indridason
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Sævar Kreutz und der Aufseher rasten den Flur entlang, aber die Aufzugtür schloss sich vor ihrer Nase. Es gab nur einen Knopf, den Pálmi drückte. Der Aufzug glitt langsam nach unten. Unten angekommen öffneten sich die Türen, und sie betraten einen großen Raum, in dem sich Computer und zahlreiche Apparaturen befanden, die ihnen nichts sagten. Sie hielten den Aufzug im Keller an, sodass er nicht nach oben geholt werden konnte. Nichts von dem, was sich in dem Raum befand, den sie langsam durchschritten, konnten sie einordnen. Sie begannen, nach Daníel zu suchen.
    Sævar Kreutz stand auf dem Flur und starrte auf die Digitalanzeige des Lifts. Er sah, wie sich der Lift in Bewegung setzte, und stieß leise Flüche zwischen den dünnen Lippen aus.
    »Nichts wie weg«, sagte er. Er drehte sich um und eilte zurück durch den Flur. »Das sind beschränkte Provinzdeppen, die nicht das geringste Verständnis für so etwas haben«, murmelte er vor sich hin. »Sie begreifen nicht die ungeheure Tragweite dieser Wissenschaft. Sie können ihre Freunde heil und ganz wiederbekommen, aber sie wollen es nicht.« Zusammen mit dem Sicherheitsbeauftragten betrat er wieder den weißen Raum, warf dem betagten Koreaner einen kurzen Blick zu, verneigte sich, legte seinen Arm um den Albino und führte ihn aus dem Raum. Sein Begleiter folgte ihm auf dem Fuß. Der Greis ging hinter ihnen her und sah ihnen nach, bis sie am Ende des Ganges verschwanden.
    Kiddi Kolke und Pálmi teilten sich auf und nahmen sich jeder einen Teil der Kellergemächer vor. Kiddi Kolke war als Erster bei der Wand am hinteren Ende, an der sich drei Türen befanden. Er versuchte, die Tür, die ihm am nächsten war, zu öffnen, aber sie war verschlossen. Er trat ein paar Schritte zurück und warf sich mit solcher Wucht gegen die Tür, dass sie aufsprang. Vorsichtig betrat er das verdunkelte Zimmer, fand einen Schalter neben der Tür und machte Licht. Die Neonlampen an der Decke flackerten etwas, bevor sie ansprangen. Kiddi Kolke stand in einem kleinen Zimmer, dessen Wände und Böden mit Fliesen bedeckt waren. In einer Ecke standen einige große Glasbehälter oder eher gläserne Zylinder auf Holzständern. Sie waren mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt. Formalin, dachte er. Er glaubte, eine Bewegung in einem der Behälter zu erkennen, aber das erwies sich als falsch. Nichts bewegte sich. Von diesen Glassäulen gab es vier, jede war gut einen Meter hoch und hatte einen Durchmesser von einem halben Meter. Kiddi Kolkd starrte durch die trübe Flüssigkeit so lange in sie hinein, bis er in dem Glaszylinder, der ihm am nächsten stand, irgendwelche Konturen zu erkennen glaubte. Ein eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken. Ein weiteres Gesicht aus der Vergangenheit.
    Er trat an den Zylinder heran und starrte intensiv hinein, bis er ein Gesicht sah, das er vor vielen Jahren gekannt hatte. Das war die Physiognomie eines seiner Freunde. Er sah nicht viel mehr, als dass der Kopf komisch geformt war und direkt am Bauch ansetzte, der wiederum nur ein halber Rumpf war und keine Extremitäten aufwies.
    Kiddi Kolke brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, was sich da in dieser gelblichen Flüssigkeit befand, aber auf einmal durchzuckte es ihn wie ein Blitz, und er spürte den Schmerz wie einen Stromstoß in seinen Gliedern. Das war sein Freund Skari, das war Óskar.
    Er ging zum nächsten Behälter, in dem er nur einen Arm und ein Bein erkennen konnte. In einem war das Gesicht von Gísli, das am Glas zu kleben schien. Er konnte kaum älter als acht oder neun Jahre alt sein. Kiddi Kolke erkannte ihn sofort, denn er hatte Gísli gekannt, seit sie zusammen eingeschult worden waren. Aber das war in einem anderen Leben gewesen.
    Im vierten und letzten Behälter sah er zunächst gar nichts. Er musste ganz dicht herantreten und mit den Händen das grelle Licht abschirmen, um etwas in der Flüssigkeit erkennen zu können. Endlich tauchten die Umrisse eines Gesichts auf, auf das er so lange starrte, bis er Gesichtsform und Ausdruck erkennen konnte. Diesen Gesichtsausdruck kannte er am besten von allen, denn es war sein eigener. Er starrte in die eigenen toten Augen und war wie hypnotisiert vor Entsetzen und Ekel. Er blickte in seine eigenen toten Kinderaugen. Auf das erste Grauen folgte eine unendliche Trauer, und er begann hemmungslos zu weinen.
    Ich habe beide Augen, war der einzige Gedanke, den er noch zu fassen vermochte.
    Ich habe beide Augen.

Siebenundvierzig
    Als
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