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Menschenskinder

Menschenskinder

Titel: Menschenskinder
Autoren: Evelyn Sanders
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es Schafherden waren?«
    »Zu jeder Weihnachtskrippe gehören außer der heiligen Familie und den drei Königen manchmal noch eine Kuh, ganz selten eine Ziege, jedoch immer mindestens ein Schaf! Und du fragst, was die mit Weihnachten zu tun haben«, hatte ich aufgetrumpft, »selber eins!« So kam es, dass wir am nächsten Tag in jeder freien Minute die Schafe nach oben holten, ein paar der kleinen Deko-Heuballen auseinander zupften und eine schöne große Herde aufhauten. »Schade, dass wir keinen Hirten haben«, bedauerte Steffi, »dann wäre das Bild perfekt.«
    »Wir haben doch einen«, fiel Lissy ein, »den Ötzi!«
    »Au ja! Ist der denn überhaupt noch da?«
    An Ötzi konnte ich mich erinnern. Natürlich handelte es sich um keine Nachbildung jenes Urmenschen, den man vor ein paar Jahren aus dem Eis geholt hatte, Steffi hatte die Figur nur so genannt. Sie stammte nämlich aus der kurzlebigen Jute-Periode, als die Zurück-zur-Natur-Bewegung ihren Höhepunkt erlebte und nicht nur der Christbaumschmuck aus naturbelassenem Material sein musste. Ich glaube, bei uns im Keller steht auch noch ein Karton mit Kugeln, die eine fatale Ähnlichkeit mit Tennisbällen haben. Damals hängte man kleine rote oder sandfarbene Jutesäckchen statt der sonst üblichen glitzernden Accessoires an den Weihnachtsbaum, benutzte selbstverständlich wieder ›richtige‹ Kerzen statt der elektrischen (angeblich sollen sich in jenem Jahr die Baumbrände mehr als verdoppelt haben), doch am Abartigsten fand ich den ökologischen Blumenschmuck: Weihnachtssterne aus Jute! Grauenvoll! Dabei hatte ich seinerzeit sogar mitgeholfen, die Dinger zu entfalten.
    Natürlich hatte es auch die entsprechenden Weihnachtsmänner gegeben. Sie trugen bodenlange dunkelbraune Filzmäntel, hatten keine Zipfelmützen auf, sondern spitze Hüte, mit denen auch der Räuber Hotzenplotz meistens abgebildet wird, und gehörten ihrem Outfit nach ungefähr in die Zeit, als Peter Rosegger noch ein Waldbauernbub war.
    Genauso ein Exemplar brachte Lissy jetzt an. Reichlich mitgenommen sah er ja aus, der Ötzi, aber wenn man sich immer die Nächte um die Ohren schlagen muss, um die Herden zu hüten, dann kann das ja gar nicht spurlos an einem Hirten vorbeigehen!
    »Den Sack müssen wir ihm abnehmen, und die Laterne passt auch nicht so richtig«, entschied Steffi, »stattdessen muss er einen Stock kriegen.«
    Der fand sich hinten im Außenlager, wo die vom Nachbargrundstück herüberragenden Kirschbaumäste einen passenden Zweig lieferten. Jetzt musste Ötzi nur noch ein bisschen entstaubt und sein Bart zurechtgestutzt werden, dann konnte er seinen Platz als Hüter der Weihnachtsschafherde einnehmen.
    So weit ich mich erinnere, mussten vor Beginn der Frühjahrssaison Osterlämmer nachbestellt werden, ein großer Teil war noch in der Adventszeit verkauft worden. Und nachdem Ötzi mindestens ein halbes Dutzend Mal in einem Einkaufswagen gefunden worden war, hatte ihm Hannes ein großes Schild vor die Füße gestellt: »Unverkäufliches Ausstellungsstück«.
    Ich habe übrigens auch eins bekommen, nicht direkt ein Schild, aber so etwas ähnliches. Ein Bote hatte es gebracht, und Hannes hatte die Tüte gleich an mich weitergereicht. Sie enthielt ein hellgraues Sweatshirt, auf dessen Vorderseite in großen schwarzen Buchstaben »Einpack-Service« prangte. Es erfüllte auch durchaus seinen Zweck, wenn man mal außer Acht lässt, dass bei dieser Tätigkeit ein helles Kleidungsstück schon nach zwei Stunden aussieht, als habe man gerade Kohlen geschippt – glitzernde Kohlen!
    Heute am Freitag sollte mein mehr oder weniger freiwilliger Arbeitseinsatz enden. Jedenfalls für diese Woche, wie mir Hannes gleich am Morgen ungerührt erklärte. »Wir haben dich für die kommende Woche auch noch eingeplant.«
    »Und was ist, wenn ich jetzt kündige?«
    »Das geht nicht. Sklaven werden entweder freigelassen oder verkauft.« Dann legte er mir liebevoll den Arm um meine Schultern. »Natürlich musst du nicht mehr kommen, wenn du nicht willst, nur bist du uns in den letzten Tagen wirklich eine so große Hilfe gewesen, dass ich sehr ungern auf dich verzichten würde. Ludwig hat mir gestern Abend am Telefon die Tonleiter rauf- und runtergehustet, der fällt noch ein paar Tage lang aus, und du weißt inzwischen hier so gut Bescheid, dass man dich sogar mit den Kunden allein lassen kann.«
    Dieser Optimist! Hatte mich doch erst gestern einer gefragt, wo er die Grabtulpen finden könne, und ich hatte
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