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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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hörte nichts. Die Stille war so kompakt, dass sie ihm auf die Ohren schlug, als wäre er tief unter Wasser.
    Was ich ja auch bin.
    Er schlug die südliche Dorfstraße ein und ging zur Jugendherberge. Wie alle anderen Gebäude in dieser Version Domarös war auch sie schöner als je zuvor, aber es war nicht so, dass sie neu erbaut ausgesehen hätte. Neubauten sind nur selten besonders anziehend. Nein, es verhielt sich eher so, dass alles so perfekt gealtert und abgenutzt war, dass die Schönheit des Gebäudes zusätzlich hervorgehoben wurde.
    Ein Freilichtmuseum .
    Ja, so ungefähr. Jedes Gebäude und jeder Gegenstand, jede Pflanze sah ausgestellt aus. Statt zu sein, repräsentierten sie eher etwas. Sich selbst. Modelle in Originalgröße.
    Eine Frau in einem weißen Kleid mit schwarzen Punkten und ein Mann in Anzughose, Weste und Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln spielten im Garten der Jugendherberge Krocket.
    Die Schläger stießen stumm, lautlos gegen die Holzkugeln, die daraufhin durch die Tore oder an den Toren vorbei rollten. Abgesehen von der fehlenden Geräuschkulisse, war das einzig seltsame Element in dieser Szene, dass der Mann und die Frau sich nie ansahen und ihm niemals zugewandt standen. Die Partie ging weiter, bis die Kugel der Frau zum Holzstock am Ende des Parcours rollte.
    Der Mann und die Frau hoben ihre Kugeln auf, versuchten nicht, miteinander zu sprechen, und wandten sich wie in einer choreografierten Pantomime der Jugendherberge zu, deren einzige Bedingung darin bestand, dass ihre Augen sich niemals begegnen durften.
    Als der Körper des Mannes sich der Jugendherberge, und damit auch Anders, zuwandte, setzte der kräftige Sog in seiner Brust wieder ein, und er stand vor der Treppe und sah den Mann und die Frau hinaufgehen, die Tür öffnen und in dem Gebäude verschwinden.
    Ich bin die Ausnahme.
    Alle anderen Menschen an Bord dieser unwirklichen Insel waren in eine Pantomime vertieft und verhielten sich, wie sie sollten. Nur er selbst war eine Abweichung, eine Störung, die mit Gewalt hin und her bewegt werden musste, damit der Tanz nicht unterbrochen wurde oder in seine Einzelteile zerfiel.
    So muss es sein .
    Wenn jeder, der hier herumlief, tatsächlich verschiedene Dinge, verschiedene Welten sah, war es zwingend notwendig, dass sie sich gegenseitig niemals ansahen, denn in diesem Moment würden sie etwas anderes sehen, und die Illusion, die ausschließlich ihnen präsentiert wurde, zerplatzen.
    Der schmale Kiesweg zu seinem Haus wurde von Maiglöckchen gesäumt. Anders ging in die Hocke, pflückte einen Strauß und steckte die Nase hinein. Nichts. Gerüche gab es hier auch nicht. Er steckte sich eine der giftigen Beeren in den Mund und kaute. Nichts. Er spürte die Beere auf der Zunge, was bedeutete, dass er fühlen konnte, aber sie schmeckte nach nichts.
    Er kam auf die Felsen hinaus, auf denen wie in der anderen Welt sein Haus stand.
    Nein …
    Anders schloss ein Auge und sah lange an der kerzengeraden Kiefer vorbei. Das Haus war nicht mehr windschief und verzogen. Das Haus war im Lot, und von allem, was er bisher gesehen hatte, erschreckte ihn das am meisten. Dass die Stümperbude keine Stümperbude mehr war, sondern ein sehr solide gebautes Sommerhaus in bester Lage.
    Vorsichtig ging er zur Haustür und öffnete sie. Eine Kolonie von Fluglarven schlüpfte in seiner Brust und flog umher, um einen Ausgang zu suchen, sodass es in seinem Brustkorb vibrierte. Die Einrichtung des Hauses stammte aus der Zeit, in der Cecilia und er hier gewohnt hatten und am glücklichsten gewesen waren.
    Weil ich will, dass es so ist.
    Zitternd ging er über den Flickenteppich, den Cecilia für zehn Kronen bei einer Auktion gekauft hatte, oder besser ge sagt, an seinem Bild. Alles, was er sah, stammte aus seinem Kopf. Er gelangte ins Wohnzimmer, und als er sah, dass die Tür zum Schlafzimmer einen Spaltbreit offen stand, ertönte der erste Laut, den er bis jetzt an diesem Ort gehört hatte: ein arhythmisches Ticken, das aus seinen Ohren zu kommen schien.
    Er legte die Hand auf den Mund und spürte, dass seine Zähne klapperten. Die Geräusche in ihm konnte nicht einmal diese Stille schlucken. Er schlich durchs Wohnzimmer, obwohl Schleichen an diesem Ort sinnlos war.
    Das Ticken steigerte sich zu einem erregten Klacken, als er zur Tür kam und hineinsah.
    Da saß sie.
    Auf dem Fußboden neben dem Bett saß Maja und wühlte in ihrem Perleneimer. Vor ihr lagen kleine Perlenhaufen in verschiedenen Farben, die sie
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