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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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sortierte. Er hörte sie vor sich hin summen, ohne es zu hören. Er wusste, dass sie summte, wenn sie mit etwas beschäftigt war.
    Zwei Strähnen ihrer dünnen, braunen Haare lagen im Nacken, einige hingen hinter ihren leicht abstehenden Ohren. Sie war barfuß und hatte den weichen blauen Stoffanzug an, den sie unter dem Overall getragen hatte.
    Die Beine gaben unter Anders nach, und er fiel blind und lautlos zu Boden. Sein Hinterkopf schlug hart auf die dicken Bodendielen, und weiße Blitze flammten auf seiner Netzhaut auf. Noch ehe die Schmerzblume ausschlug, hob er den Kopf, um weiter schauen zu können, weil er fürchtete, das Bild könnte ihm entrissen, seinen Augen entzogen werden, wenn seine Aufmerksamkeit auch nur für eine Sekunde nachließ.
    Der Schmerz schlug in seinem Schädel aus, aber Maja saß weiterhin vor ihm. Es pochte in seinem Kopf, als er sich so drehte, dass er bäuchlings auf dem Fußboden lag, das Gesicht nur zwei Meter von ihrem Rücken entfernt. Die kleinen Finger spielten mit den Perlen, sortierten eine nach der anderen den richtigen Haufen zu.
    Ich bin hier. Sie ist hier. Ich bin zu Hause.
    Lange lag er nur da und sah sie an, während die Kopfschmerzen nachließen. Seine Zähne klapperten nicht mehr. Er war diesen weiten Weg gegangen, um das zu sehen. Jetzt saß sie zwei Meter vor ihm.
    Und er konnte sie nicht erreichen.
    »Maja?«, sagte er. Man hörte nichts. Sie reagierte nicht.
    Er robbte über den Fußboden, über die Türschwelle, bis er direkt neben ihr war und den Flecken eingetrockneter Milch auf dem Knie des Stoffanzugs sehen konnte. Er setzte sich auf und legte die Hand auf ihre Schulter.
    Er fühlte die weiche Rundung unter dem Stoff, sie war nicht viel größer als ein Ei. Er strich ihr über die Schulter, genoss das Gefühl in der Hand und drückte vorsichtig, während ihm stumme Tränen über das Gesicht liefen. Er streichelte ihren Oberarm, Tränen liefen ihm in den Mund. Sie schmeckten salzig. Sie kamen von ihm.
    Aber sie drehte sich nicht um. Sie wusste nicht, dass er da war. Er war nichts als zwei stumme, weinende Augen, die sie ansahen.
    »Liebling. Maja, mein Liebling, Prinzessin, ich bin jetzt hier. Papa ist hier. Ich bin bei dir. Du bist nicht mehr allein.«
    Er umarmte ihren Rücken, lehnte die Wange in ihren Nacken und weinte weiter. Sie hätte sich umdrehen müssen, sie hätte schimpfen müssen: Papa, dein Bart piekst, ich werde nass , aber nichts dergleichen geschah. Für sie gab es ihn nicht.
    Er blieb so sitzen, bis die Tränen versiegten und er nicht mehr weinen konnte. Er ließ sie los und wich einen halben Meter zurück. Sein Blick wanderte über ihren gekrümmten Rücken, die Konturen der Wirbel, die sich unter dem Stoff abzeichneten.
    Ich sitze hier für immer. Wenn sie aufsteht, folge ich ihr. Wie ein Geist. Ich bin bei ihr, wie sie bei mir war.
    Er schloss die Augen. Jetzt wagte er es, die Augen zu schließen.
    Würde sie es so empfinden? Wie die vage, nicht fassbare Gegenwart einer anderen Person, die ihr folgte, wo immer sie ging? Würde es sie ängstigen? Konnte sie Angst bekommen? Konnte er sie überhaupt beeinflussen?
    Mit weiterhin geschlossenen Augenlidern streckte er seine Hand aus und berührte ihren Rücken. Er war da. Das Gefühl des fluseligen Fleecestoffes an seiner Hand war da, obwohl seine Augen geschlossen waren.
    Kann ich …
    Er rutschte vorwärts und nach rechts, wobei seine Hand über ihren Rücken, über ihre Schulter glitt. Er zog sich auf den Knien um sie herum, hielt die Augen weiter geschlossen, spürte ihr Schlüsselbein unter den Fingerspitzen. Er saß direkt vor ihr und folgte der Linie ihres Halses bis zum Gesicht. Da war es. Ihr Gesicht. Die runden Wangen, die Stupsnase, die Lippen, die sich bewegten, wenn sie summte.
    Er öffnete die Augen.
    Seine Hand ruhte auf Majas Hinterkopf, und er saß, wo er gesessen hatte, ehe er losgerutscht war. Seine Finger hatten über ihre Lippen gestrichen, aber sie hatte es nicht gemerkt. Es gab ihn nicht. Für sie war er nicht einmal ein Geist.
    Er lehnte sich zurück, streckte sich auf dem Fußboden aus und sah zur Decke, die hier nicht voller Rußflecken oder Spinnweben, sondern eine schöne, weiß lackierte Decke aus sorgsam verlegten Dielen war. Die Art Decke, die er am schönsten fand.
    Er konnte neben Maja sitzen, sie sehen und berühren, aber nicht zu ihr vordringen. Ihre Welten durften sich nicht berühren.
    Aber sie ist doch zu mir gekommen. Ich wusste, dass sie da war. Sie kam zu
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