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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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Auf der Place Saint-Sulpice habe ich, während meine Hand in der von Tante Marguerite lag, die sich nicht gut darauf verstand, mit mir zu reden, mich plötzlich mit einem deutlichen Gefühl der Überlegenheit gefragt: ‹Was sieht sie wohl in mir?› Mir war ja mein Inneres bekannt, von dem sie gar nichts wusste; durch den Augenschein getäuscht, ahnte sie angesichts meines unfertigen Körpers nicht, dass drinnen schon alles vorhanden war; ich nahm mir vor, wenn ich selber erwachsen wäre, nicht zu vergessen, dass man mit fünf Jahren als Individualität schon voll ausgebildet ist. Das übersahen die Erwachsenen, wenn sie mir Herablassung zeigten und mich dadurch kränkten. Ich war empfindlich wie ein Mensch, der ein Gebrechen hat. Wenn Großmama beim Kartenspiel mogelte, um mich gewinnen zu lassen, wenn Tante Lili mir ein zu leichtes Rätsel aufgab, geriet ich außer mir. Oft hatte ich die Großen im Verdacht, sie spielten Komödie vor mir; ich mutete ihnen dabei nicht zu, dass sie selbst es nicht merkten, sondern nahm vielmehr an, dass sie sich untereinander verabredeten, um mich zum Besten zu haben. Am Ende eines Festmahls wollte Großpapa mit seinem Glas mit mir anstoßen: Ich wand mich konvulsivisch am Boden. Louise nahm ein Taschentuch, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen: Ich wehrte mich erbost dagegen, ihre Geste kam mir unaufrichtig vor. Sobald ich mit Recht oder Unrecht den Eindruck bekam, man mache sich meine Arglosigkeit zunutze, um auf mich Einfluss zu nehmen, rebellierte ich.
    Meine Heftigkeit wirkte einschüchternd auf meine Umgebung. Ich wurde gescholten, wenig gestraft; selten kam es vor, dass jemand mir eine Ohrfeige gab. «Wenn man Simone anrührt, wird sie violett», erklärte Mama. Einer meiner Onkel geriet so sehr außer sich, dass er darauf keine Rücksicht nahm: Ich war derart verdutzt, dass mein Anfall schlagartig endete. Man wäre vielleicht gar nicht schwer mit mir fertiggeworden, aber meine Eltern nahmen meine Wutanfälle ohnehin nicht tragisch. Papa – der damit irgendjemanden parodierte – stellte fest: «Dies Kind ist unsoziabel.» Er sagte auch, nicht ohne einen Anflug von Stolz: «Simone ist eigensinnig wie ein Maulesel.» Ich machte mir das zunutze und überließ mich umso mehr meinen Launen; ich war ungehorsam einzig um des Vergnügens willen, Befehle zu missachten. Auf Familienbildern streckte ich die Zunge heraus oder stelle mich mit dem Rücken zum Fotografen auf; alles um mich her lacht. Ähnliche Siege ermutigten mich, Regeln, Riten, Routine nicht für unüberwindlich zu halten. In ihnen wurzelte auch ein Optimismus bei mir, der allen Zähmungsversuchen widerstand.
    Was meine Niederlagen anbetrifft, so erzeugten sie in mir weder das Gefühl der Demütigung noch etwa nachhaltigen Groll; wenn ich, nachdem ich mich ausgeheult und -geschrien hatte, endlich kapitulierte, war ich allzu erschöpft, um meinem Verdruss noch weiter nachzuhängen; oft hatte ich dann sogar den Anlass zum Widerstand schon vergessen. Voller Scham über einen Exzess, für den ich in meinem Innern keine Rechtfertigung mehr fand, verspürte ich nichts mehr außer Gewissensbissen; sie verflüchtigten sich jedoch schnell, denn es fiel mir nicht schwer, Verzeihung zu erlangen. Alles in allem bildeten meine Zornanfälle einen Ausgleich für meine Versklavung durch Gesetze; sie verhinderten, dass ich meinen Groll lautlos hinunterschluckte. Niemals stellte ich die Autorität etwa ernstlich in Frage. Das Verhalten der Erwachsenen war mir nur insoweit suspekt, als es das Zweideutige meiner Lage als Kind widerspiegelte: Gegen diese im Grunde lehnte ich mich auf. Ohne jeden Vorbehalt nahm ich jedoch die mir überlieferten Dogmen und die Werturteile hin, die mir dargeboten wurden.
    Die beiden obersten Kategorien, die mein Universum bestimmten, waren Gut und Böse. Ich selber bewohnte die Region des Guten, in der – unauflöslich vereint – Glück und Tugend herrschten. Ich besaß die Erfahrung unverdienter Schmerzen: Es kam vor, dass ich mich stieß oder mir die Haut abschürfte; ein Anfall von Ekthyma hatte mich entstellt: Ein Arzt brannte meine Pusteln mit Silbernitrat aus, und ich schrie. Doch gingen solche Missgeschicke jedes Mal rasch vorbei und erschütterten nicht mein Credo, dass Freuden und Leiden der Menschen ihren Verdiensten entsprechen.
    Da ich in so intimem Verkehr mit dem Guten lebte, hatte ich sehr bald heraus, dass es innerhalb dieser Kategorie Nuancen und Abstufungen gibt. Ich war ein
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