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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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eine Dame und reichte mir ein Bonbon. Ich dankte es ihr, indem ich mit Füßen nach ihr stieß. Dieser Zwischenfall machte von sich reden; eine fettleibige, schnurrbartgeschmückte Tante, die ‹schrieb›, berichtete darüber in der
Poupée modèle
. Ich teilte das Gefühl der Hochachtung meiner Eltern vor bedrucktem Papier: Dank der Erzählung, die Louise mir vorlas, fühlte ich mich als Persönlichkeit; allmählich gewann indessen etwas wie Unbehagen in mir die Oberhand. ‹Die arme Louise weinte oft bitterlich, wenn sie an ihre Lämmer dachte›, schrieb meine Tante. Louise weinte nie; sie hatte keine Lämmer, und außerdem liebte sie mich: Und wie kann man überhaupt ein kleines Mädchen mit Lämmern vergleichen? Ich bekam an jenem Tage eine Ahnung davon, dass die Literatur mit der Wahrheit nur vage Beziehungen unterhält.
    Oft habe ich mich nach Sinn und Grund meiner Wutanfälle gefragt. Ich glaube, dass sie sich zum Teil durch eine stürmische Vitalität und eine Neigung zu einem Extremismus erklärten, auf welchen ich niemals verzichtet habe. Da meine Abneigung bis zum Erbrechen und meine Begierden bis zur Besessenheit gingen, trennte ein Abgrund die Dinge, die ich liebte, von denen, die mir zuwider waren. Ich war außerstande, den Sturz aus der Fülle ins Leere, aus der Seligkeit ins Grauen gelassen hinzunehmen; hielt ich diese Vorgänge freilich für schicksalgegeben, so resignierte ich; niemals habe ich meinen Groll an einem Objekt ausgelassen. Aber ich lehnte es ab, der ungreifbaren Macht der Worte zu weichen; was mich aufs tiefste empörte, war, dass ein beiläufig hingesagter Satz wie: ‹Man muss …, man darf nicht …› im Handumdrehen meine Unternehmungen und Freuden von Grund auf vernichtete. Die Willkür der Befehle und Verbote, auf die ich stieß, schien mir ein Beweis für ihre Substanzlosigkeit zu sein; gestern habe ich einen Pfirsich geschält; weshalb nicht heute die Pflaume? Weshalb muss ich mich von meinem Spiel gerade in dieser Minute trennen? Überall traf ich auf Zwang, jedoch nirgends auf Notwendigkeit. Im Innersten des Gesetzes, das steinern auf mir lastete, ahnte ich schwindelerregende Leere. In diesem Abgrund versank ich dann unter ohrenbetäubendem Geschrei. Indem ich mich strampelnd zu Boden warf, stemmte ich mich mit dem Gewicht meines Leibes gegen die nicht zu fassende Macht, die mich tyrannisierte; ich zwang sie dazu, Gestalt anzunehmen: Man packte mich, sperrte mich in die dunkle Kammer, wo sonst nur Besen und Staubwedel waren; ich stieß dann mit Händen und Füßen zum mindesten gegen wirkliche Wände, anstatt mit ungreifbaren Willensäußerungen in Konflikt zu geraten. Ich wusste, dass der Kampf vergeblich war; in dem Augenblick, da meine Mutter mir die von Saft tropfende Pflaume aus der Hand genommen oder Louise meine Schippe und die Förmchen in ihrer Einkaufstasche hatte verschwinden lassen, war ich bereits besiegt, doch ich ergab mich nicht. Ich setzte mich mit einer Niederlage gründlich auseinander. Mein stoßweises Schluchzen, die Tränen, vor denen ich nicht mehr sehen konnte, vernichtigten die Zeit, brachten den Raum zum Erliegen, ließen gleichzeitig das Objekt meiner Wünsche, doch auch die Hindernisse verschwinden, die mich davon trennten. Ich erlitt Schiffbruch in der Nacht völliger Machtlosigkeit; es blieb nichts mehr übrig als meine nackte Gegenwart, die sich in langgezogenen Heullauten manifestierte.
    Nicht nur brachen die Erwachsenen meinen Willen, sondern ich musste mich noch dazu als eine Beute ihres privaten Bewusstseins fühlen. Dieses spielte mitunter die Rolle eines schmeichelnden Spiegels, doch hatte es auch die Macht, über mich einen bösen Zauber zu werfen; es verwandelte mich in ein Tier, in ein Ding: «Was für hübsche Waden die Kleine hat!», sagte eine Dame und bückte sich, um mich zu betasten. Hätte ich mir sagen können: ‹Wie dumm diese Dame ist, sie hält mich für ein Hündchen›, so wäre das meine Rettung gewesen. Doch hatte ich mit meinen drei Jahren noch nicht die Möglichkeit, mich anders dieser süßlichen Stimme, dieses genüsslichen Lächelns zu erwehren, als indem ich mich kreischend auf das Straßenpflaster warf. Später erlernte ich ein paar Abwehrmanöver, dafür jedoch wurde ich anspruchsvoller: Um mich zu verletzen, genügte es jetzt schon, dass man mich als Baby behandelte; obwohl meine Kenntnisse und Möglichkeiten noch vielen Beschränkungen unterlagen, hielt ich mich nichtsdestoweniger für eine Persönlichkeit.
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