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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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braves kleines Mädchen, aber ich beging Fehler; Tante Alice betete viel, sie würde sicher einmal in den Himmel kommen, doch hatte sie sich mir gegenüber ungerecht gezeigt. Unter den Leuten, die ich lieben und wertschätzen sollte, befanden sich auch solche, die von meinen Eltern in manchen Punkten missbilligt wurden. Sogar Großpapa und Großmama entgingen nicht völlig ihrer Kritik: Sie hatten mit Vettern ‹gebrochen›, die Mama häufig besuchte und die ich selbst sehr nett fand. Dieses Wort ‹Bruch› mit seinem Unterton von etwas Irreparablem behagte mir durchaus nicht. Weshalb ‹bricht› man mit jemandem? Und wie macht man das? Es schien mir bedauerlich, mit andern gebrochen zu haben. Offen bekannte ich mich zu Mamas Handlungsweise. «Bei wem seid ihr gestern gewesen?», fragte mich Tante Lili. «Das sage ich euch nicht; Mama hat es mir verboten.» Sie tauschte mit ihrer Mutter einen langen Blick. Es kam auch vor, dass sie Bemerkungen machten, die eher abschätzig klangen: «Nun? Läuft deine Mama immer noch so viel herum?» Durch ihre Böswilligkeit setzten sie sich jedoch nur selbst in meinen Augen herab, ohne Mama zu treffen. Einfluss auf die Zuneigung, die ich ihnen entgegenbrachte, hatte das aber keineswegs. Ich fand ganz natürlich und in gewisser Weise sogar angemessen, dass diese Nebenpersonen nicht so unantastbar dastanden wie die Hauptgottheiten. Louise und meine Eltern besaßen allein das Monopol der Unfehlbarkeit.
    Ein Feuerschwert trennte das Gute vom Bösen; diesem Letzteren hatte ich niemals ernstlich ins Auge geblickt. Manchmal wurde die Stimme meiner Eltern hart. Aus ihrer Empörung, ihrem Zorn erriet ich, dass es in ihrer Umgebung wahrhaft schwarze Seelen gab. Ich wusste freilich nicht, welche es waren, und auch ihre Verbrechen waren mir nicht bekannt. Das Böse hielt mir gegenüber noch immer einen gewissen Abstand ein. Nur unter dem Bilde mythischer Gestalten stellte ich mir seine Repräsentanten vor: Da waren der Teufel, die böse Fee, Aschenbrödels Schwestern. Da ich ihnen in Wirklichkeit niemals begegnet war, beschränkten sie sich für mich auf ihre reine Essenz. Der Böse sündigte, wie das Feuer brennt, ohne Pardon und ohne Berufungsrecht. Das Feuer war für ihn der natürliche Ort, die Höllenstrafe sein gerechtes Los, und es schien mir ketzerisch, angesichts seiner Qualen Mitleid zu empfinden. Tatsächlich erweckten die rot glühend gemachten Pantoffeln, die die Zwerge Schneewittchens Stiefmutter an die Füße zogen, oder die Flammen, in denen Luzifer schmorte, niemals eine wirkliche Vorstellung physischen Leidens bei mir. Menschenfresser, Hexen, Dämonen, Stiefmütter, Henker waren für mich unmenschliche Wesen, die eine abstrakte Macht vertraten und deren Qualen in ebenfalls abstrakter Form ein Symbol für die ihnen gebührende Niederlage waren.
    Als ich mit Louise und meiner Schwester nach Lyon aufbrach, hegte ich die Hoffnung, das Böse endlich einmal mit aufgeklapptem Visier vor mir zu sehen. Wir waren von entfernten Vettern eingeladen, die in einem Vorort der Stadt ein von einem großen Park umgebenes Haus bewohnten. Mama erklärte mir, dass die kleinen Sirmione keine Mutter mehr hätten, dass sie nicht immer artig wären noch, wie es sich gehörte, ihr Abendgebet verrichteten; ich solle mir nichts daraus machen, falls sie über mich lachten, wenn ich selber zur Nacht betete. Ich hörte so etwas heraus, als halte ihr Vater, ein alter Professor der Medizin, nicht viel vom lieben Gott. Ich legte im Geiste bereits die weiße Tunika der hl. Blandine an, die den Löwen überantwortet wird, doch ich wurde enttäuscht, denn niemand stürzte sich auf mich. Wenn Onkel Sirmione das Haus verließ, murmelte er in seinen Bart: «Auf Wiedersehen, Gott behüte euch»; er war also doch kein Heide. Meine Vettern – sieben an der Zahl zwischen zehn und zwanzig Jahren – führten sich allerdings ziemlich merkwürdig auf; durch das Parkgitter bewarfen sie die Gassenjungen mit Steinen, sie prügelten sich untereinander und quälten ein schwachsinniges kleines Waisenmädchen, das bei ihnen wohnte; um die Kleine zu erschrecken, holten sie des Nachts ein Skelett aus dem Arbeitszimmer des Vaters und umhüllten es mit einem weißen Tuch. Obwohl diese Absonderlichkeiten mich etwas stutzig machten, kamen sie mir doch vergleichsweise harmlos vor; ich entdeckte darin noch nicht die wirkliche tiefe Schwärze des Bösen. Friedlich spielte ich zwischen Hortensienbüschen, und die schlimme Kehrseite
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