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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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schmieriges Fett, das klebrige Innere der Schaltiere widerten mich an; Schluchzen, Geschrei, Erbrechen waren die Folge davon; meine Antipathien waren so unüberwindlich, dass man darauf verzichtete, ihnen entgegenzutreten. Umgekehrt machte ich mir das Privileg der Kindheit, für die Schönheit, Luxus und Glück noch essbare Dinge sind, leidenschaftlich zunutze: In der Rue Vavin blieb ich starr vor Bewunderung in den Anblick der transparenten Fruchtpastenherrlichkeiten und des vielfarbigen Blütenflors der sauren Drops versunken stehen. Ich war ebenso begierig auf ihre Farben, Grün, Rot, Orange und Violett, wie auf das Gaumenvergnügen, das sie mir verhießen. Oft wurde mir das Glück zuteil, dass meine Bewunderung in genießerisches Schwelgen einmündete. Mama zerstampfte Pralinen in einem Mörser, sie mischte die körnig-pudrige Substanz mit einer gelben Creme; das Rosa der süßen Füllungen stufte sich in erlesenen Tönungen darin ab: Ich tauchte meinen Löffel in etwas wie Abendröte. An den Abenden, an denen meine Eltern Gäste hatten, vervielfältigten die Spiegel im Salon das Glitzern eines kristallenen Lüsters. Mama setzte sich an den Flügel, eine Dame im Tüllkleid spielte Geige und ein Vetter Cello. Ich zerdrückte zwischen den Zähnen die Schale einer verborgen gehaltenen Frucht, und eine lichtgefüllte Blase zerplatzte mit Johannisbeer- oder Ananasgeschmack gegen meinen Gaumen: Mir gehörten Farbe und funkelndes Licht, mir die Chiffonschals, die Diamanten, die Spitzen, mir das ganze Fest. Die Paradiese, in denen Milch und Honig fließen, haben mich niemals verlockt, aber ich neidete der ‹Dame Tartine› ihr Schlafzimmer, das aus einem Windbeutel bestand. Wenn die Welt, in der wir leben, um und um essbar wäre, welche Macht besäßen wir über sie! Als ich erwachsen war, hätte ich am liebsten die blühenden Mandelbäume abgeweidet und in die Pralinen des Sonnenuntergangs kräftig hineingebissen. Vor dem Himmel von New York kamen mir die Neonreklamen wie riesenhafte Leckereien vor, um die ich mich noch heute betrogen fühle.
    Essen war nicht nur eine Entdeckungsreise und eine Eroberung, sondern auch die ernsteste meiner Verpflichtungen: «Einen Löffel für die Mama, einen für die Großmama … Wenn du nicht isst, wächst du auch nicht.» Ich wurde im Vorplatz mit dem Rücken an die Wand gestellt, dann zog man haarscharf über meinem Kopf einen Strich, der mit einem von früher verglichen wurde; ich war um zwei oder drei Zentimeter gewachsen, man gratulierte mir dazu, und ich bildete mir etwas darauf ein; manchmal jedoch erfasste mich auch Angst. Die Sonne legte sich schmeichelnd über das gewachste Parkett und die weiß lackierten Möbel. Ich betrachtete Mamas Armstuhl und dachte bei mir: ‹Ich werde mich nicht mehr auf ihren Schoß setzen können.› Plötzlich war da die Zukunft: Sie würde mich in ein anderes Wesen verwandeln, das ‹ich› sagte und das doch ich nicht mehr war. Ich habe alle Entwöhnung, allen Verzicht, alle Verlassenheit, alle aufeinanderfolgenden Tode schon früh vorausgeahnt. «Einen Löffel für Großpapa …» Aber ich aß schließlich doch und war stolz darauf, dass ich größer wurde; ich habe mir nie gewünscht, für immer ein kleines Kind zu bleiben. Ich muss diesen Konflikt wohl in aller Intensität durchlebt haben, da ich mich noch so gut in allen Einzelheiten an das Album erinnere, aus dem Louise mir die Geschichte von Charlotte vorlas. Eines Morgens fand Charlotte auf dem Stuhl an ihrem Bett ein rosa Zuckerei, das fast so groß war wie sie selbst; auch mich faszinierte es. Es war Mutterleib und Wiege in einem, und doch konnte man es essen. Da Charlotte jede andere Nahrung ablehnte, wurde sie Tag für Tag kleiner, bis sie geradezu winzig war; beinahe wäre sie in einem Kochtopf ertrunken, die Köchin warf sie aus Unachtsamkeit in einen Abfalleimer, eine Ratte trug sie fort. Sie wurde gerettet; jedoch von Schrecken und Reue erfasst, stopfte Charlotte sich nun so gierig voll, dass sie wie eine pralle Schweinsblase anschwoll und ihre Mutter mit diesem ballonförmig aufgetriebenen Ungeheuer schließlich zum Arzt gehen musste. Mit weise gemäßigtem Appetit betrachtete ich die Bilder, durch welche die von diesem vorgeschriebene Diät anschaulich dargestellt wurde: eine Tasse Schokolade, ein gekochtes Ei, ein goldbraun gebratenes Kotelett. Charlotte fand daraufhin wieder zu ihrem normalen Umfang zurück, und ich selbst ging heil und gesund aus einem Abenteuer hervor,
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