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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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würde. Was mich eher beschäftigte, war das Bestreben meiner Eltern, gewisse Gespräche, die sie führten, vor mir geheim zu halten. Kam ich durch Zufall einmal dazu, so senkten sie die Stimmen oder verfielen in Schweigen. Es gab also Dinge, die ich zwar hätte verstehen können, aber nicht wissen sollte? Was für Dinge waren das denn? Weshalb verbarg man sie vor mir? Mama verbot Louise, mir eine der Geschichten von Madame de Ségur vorzulesen: Ich könne davon Angstzustände bekommen. Was geschah mit dem Burschen, der mit Tierfell bekleidet auf den Bildern zu sehen war? Vergebens fragte ich sie danach. ‹Ourson› wurde damit für mich zum Urbild alles Geheimnisvollen.
    Die großen Mysterien der Religion waren zu fern und zu schwer begreifbar, um mir zu schaffen zu machen. Nachdenklich stimmte mich hingegen das Mirakel der Christnacht, das mir weitaus vertrauter war. Es kam mir unangemessen vor, dass das allmächtige Jesuskind Vergnügen daran fand, im Schornstein herunterzurutschen wie ein Kaminkehrerbube. Ich bewegte die Frage lang in meinen Gedanken und eröffnete mich schließlich meinen Eltern darüber, die denn auch Farbe bekannten. Was mich in Erstaunen setzte, war dabei jedoch, dass ich so fest an eine Sache hatte glauben können, die überhaupt nicht auf Wahrheit beruhte, das heißt, dass es falsche Gewissheiten gab. Ich zog jedoch damals noch keine praktischen Folgerungen daraus. Ich sagte mir nicht, dass meine Eltern, da sie mich hierin getäuscht hatten, mich möglicherweise auch weiterhin täuschen würden. Sicherlich würde ich ihnen eine Lüge, die mich im Innersten getroffen oder verwundet hätte, nicht leicht verziehen haben; ich hätte mich dagegen empört und wäre misstrauisch geworden. So fühlte ich mich jedoch ebenso wenig verletzt wie ein Zuschauer, dem ein Taschenspieler einen seiner Tricks aufdeckt; da ich seinerzeit mit dem größten Entzücken neben meinem Schuh die auf ihrem Koffer sitzende Puppe Blondine entdeckt hatte, war ich im Grunde also meinen Eltern fast dankbar für ihre Hinterlist. Vielleicht hätte ich ihnen eher gegrollt, wenn ich nicht nunmehr aus ihrem eigenen Munde die Wahrheit vernommen hätte. Indem sie selber zugaben, sie hätten mich getäuscht, gewannen sie mich aufs Neue durch ihre Offenheit. Sie sprachen eben heute zu mir wie zu einer Erwachsenen. Stolz auf meine neue Würde, fand ich mich leichthin damit ab, dass man das kleine Ding genarrt hatte, das ich nun nicht mehr war. Es erschien mir ganz normal, dass man meiner kleinen Schwester auch weiterhin Dinge vorgaukelte. Ich selbst war zu den Großen hinübergewechselt und nahm damit an, dass mir künftighin stets die Wahrheit offenbart werden würde.
    Meine Eltern gingen freundlich auf alle meine Fragen ein; meine Unwissenheit verflüchtigte sich in dem Augenblick, da ich ihr Ausdruck gab. Dennoch gab es einen Mangel, dessen ich mir bewusst war: Unter den Augen der Erwachsenen verwandelten sich die in den Büchern aufgereihten schwarzen Flecke in Wörter; ich betrachtete sie: Sie waren auch mir zwar sichtbar, doch konnte ich sie nicht deuten. Schon frühzeitig hatte man mir Buchstaben zum Spielen gegeben. Mit drei Jahren schon erklärte ich, das O heiße O; das S war für mich ein S, wie ein Tisch ein Tisch war; ich kannte nahezu das gesamte Alphabet, aber die bedruckten Seiten blieben für mich auch weiterhin stumm. Eines Tages jedoch sprang in meinem Kopf der Funke über. Mama hatte auf dem Esszimmertisch die Regimbeaufibel aufgeschlagen; ich betrachtete das Bild einer Kuh, der ‹vache›, und die beiden Buchstaben c und h, die wie sch ausgesprochen wurden. Mit einem Male wurde mir klar, dass diese Zeichen nicht einen Namen trugen wie ein Gegenstand, sondern dass sie vielmehr einen Laut vorstellen. Ich begriff, was ein Schriftzeichen ist. Mit dem Lesenlernen ging es von da an schnell. Freilich blieb mein Denken noch einmal auf halbem Wege stehen. Ich sah in dem graphischen Bild die exakte Entsprechung des Lautes, der damit gemeint war; beide waren für mich ein Ausfluss der Sache, die sie ausdrücken sollten, sodass ihre Wechselbeziehung nicht willkürlich aufzulösen war. Die Erkenntnis des Zeichens schloss noch nicht unbedingt die einer bloßen Übereinkunft ein. Daher widersetzte ich mich mit aller Heftigkeit, als Großmama mich die Noten lehren wollte. Mit einer Stricknadel wies sie auf die runden Köpfe auf dem Liniensystem; diese Linie entsprach, so erklärte sie mir, einer bestimmten Taste auf dem
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