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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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Klavier. Warum? Wieso? Ich fand nichts Gemeinsames zwischen dem Notenpapier und dem Instrument. Wenn man mir ungerechtfertigten Zwang auferlegen wollte, empörte ich mich dagegen; ebenso lehnte ich Wahrheiten ab, die kein Absolutes darstellten. Ich wollte mich nur der Notwendigkeit fügen; menschliche Entscheidungen gingen mehr oder weniger aus bloßer Laune hervor, sie hatten nicht genügend Gewicht, um für mich zwingend zu werden. Tagelang beharrte ich bei meinem Eigensinn. Schließlich aber gab ich nach. Eines Tages kannte ich die Tonleiter, aber ich hatte den Eindruck, die Regeln eines Spiels erlernt, nicht aber eine wirkliche Kenntnis erworben zu haben. Hingegen kam ich mühelos mit der Arithmetik zurecht, denn ich glaubte an die Wirklichkeit der Zahlen.
    Im Oktober 1913  – ich war damals fünfeinhalb Jahre alt – wurde beschlossen, mich in eine Privatschule mit dem verlockenden Namen ‹Cours Désir› zu schicken. Die Leiterin der Unterstufe, Mademoiselle Fayet, empfing mich in einem feierlichen, mit schweren Portieren verhangenen Arbeitszimmer. Während sie mit Mama sprach, strich sie mir liebevoll über das Haar. «Wir sind keine Lehrerinnen», erklärte sie, «sondern Erzieherinnen.» Sie trug einen hohen Spitzenkragen, einen langen Rock und kam mir etwas zu salbungsvoll vor: Mir war immer alles das lieber, wovon ein gewisser Widerstand ausging. Am Tage vor meinem ersten Unterricht hüpfte ich gleichwohl vor Vergnügen auf dem Vorplatz umher: «Morgen gehe ich zur Schule!» – «Du wirst das nicht immer so lustig finden», sagte Louise zu mir. Diesmal irrte sie sich, dessen war ich gewiss. Der Gedanke, von nun an ein Leben für mich allein zu haben, berauschte mich. Bis dahin hatte ich nur gleichsam nebenher mit Erwachsenen gelebt; von nun an aber würde ich meine Schultasche, meine Bücher und Hefte, meine Aufgaben haben; meine Wochen und Tage würden nach meinem eigenen Stundenplan ihre Einteilung erhalten; ich meinte eine Zukunft vor mir zu sehen, die, anstatt mich von mir selbst zu entfernen, einen festen Platz in meinem Gedächtnis einnehmen würde: Von Jahr zu Jahr würde ich immer reicher werden, aber dem kleinen Schulmädchen, dessen Geburtsstunde in diesem Augenblick schlug, dennoch die Treue bewahren.
    Ich wurde nicht enttäuscht. An jedem Mittwoch und Samstag nahm ich eine Stunde lang an einer geheiligten Zeremonie teil, deren Pomp auf meine ganze Woche einen verklärenden Schimmer warf. Die Schülerinnen setzten sich ringsum an einen ovalen Tisch; von einer Art von Katheder aus führte Mademoiselle Fayet den Vorsitz; während oben aus ihrem Rahmen Adeline Désir, eine Bucklige, deren Seligsprechung man höheren Ortes zu erreichen trachtete, wachsam auf uns herniedersah. Auf schwarzen Moleskinsofas saßen, mit Stricken und Sticken beschäftigt, unsere Mütter aufgereiht. Je nachdem, ob wir mehr oder weniger artig gewesen waren, diktierten sie uns Betragensnoten zu, die wir am Ende des Unterrichts mit lauter Stimme als unangemessen zu bezeichnen pflegten. Mademoiselle Fayet trug sie in ihr Register ein. Mama erkannte mir eine Zehn nach der anderen zu: Eine Neun wäre uns beiden gegen die Ehre gewesen. Mademoiselle teilte uns ‹Satisfecits› aus, die wir jedes Trimester gegen Bücher mit Goldschnitt eintauschen durften. Dann stellte sie sich in den Türrahmen, spendete uns einen Kuss auf die Stirn und gute Ratschläge für das Herz. Ich konnte jetzt lesen, schreiben und ein wenig rechnen. Ich war die Glanznummer von Kursus ‹Null›. Als Weihnachten näher rückte, erhielt ich ein weißes Kleid mit einer goldenen Borte daran und stellte das Jesuskind dar. Die anderen kleinen Mädchen knieten vor mir nieder.
    Mama wachte über meine schriftlichen Hausarbeiten und hörte mir meine Lektionen ab. Ich hatte Freude am Lernen. Die biblische Geschichte kam mir noch unterhaltsamer vor als die Kindermärchen, da die Wunder, die sie berichtete, wirklich geschehen waren. Ich war auch von den Tafeln im Atlas entzückt. Die Einsamkeit der Inseln, die Kühnheit der Kaps, die Zerbrechlichkeit der Landzungen, die die Halbinseln mit dem Festland verbinden, machten tiefen Eindruck auf mich; eine gleiche geographisch bedingte Ekstase habe ich noch einmal erlebt, als ich vom Flugzeug aus Korsika und Sardinien sich in die Bläue des Meeres einzeichnen oder in Calchis, von einer wirklichen Sonne bestrahlt, die vollkommene Idee eines zwischen zwei Meeren eingeengten Isthmus verwirklicht vor mir sah. Strenge
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