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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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Deutschen mit den spitzen Helmen, die uns schon Elsass und Lothringen weggenommen hatten und deren groteske Hässlichkeit ich aus den ‹Hansi›-Albums kannte.
    Ich wusste jetzt, dass nur Soldaten im Kriege einander töten, und ich hatte genügend Geographie gelernt, um mir die Grenze vom Limousin weit entfernt vorzustellen. Niemand in meiner Umgebung schien sich zu fürchten, und so beunruhigte denn auch ich mich nicht. Papa und Mama trafen unerwartet, verstaubt und wortreich ein: Sie hatten achtundvierzig Stunden auf der Eisenbahn verbracht. An den Einfahrten der Remisen wurden Requisitionsbefehle angeschlagen und Großpapas Pferde nach Uzerche gebracht. Die allgemeine Erregung, die dicken Überschriften des
Courrier du Centre
faszinierten mich; ich hatte immer gern, wenn irgendetwas geschah. Ich erfand Spiele, die den Umständen angepasst waren; ich selbst war Poincaré, meine Cousine König Georg V., meine Schwester der Zar. Wir hielten Konferenzen unter den Zedern ab und teilten den ‹Prussiens› Säbelhiebe aus.
    Im September in La Grillère lernte ich meine Pflichten als Französin erfüllen. Ich half Mama bei der Herstellung von Scharpie, ich strickte einen Wollschal. Meine Tante Hélène ließ das Gig anspannen, wir fuhren zum Bahnhof, um hochgewachsenen Hindus in Turbanen Äpfel auszuteilen; sie revanchierten sich mit Buchweizen, von dem sie uns manche Handvoll spendeten; wir brachten den Verwundeten mit Käse und Pastete belegte Brote. Die Frauen aus dem Dorfe drängten sich mit Armen voller Lebensmittel an die Militärzüge heran. «Ein Andenken, ein Andenken!», bettelten sie; die Soldaten schenkten ihnen Mantelknöpfe und Patronenhülsen. Eine von ihnen reichte eines Tages einem deutschen Verwundeten ein Glas Wein. Ein Murren erhob sich ringsum. «Wieso!», sagte sie, «das sind auch Menschen.» Das Murren schwoll daraufhin an. Heiliger Zorn glomm sogar in Tante Hélènes zerstreuten Blicken auf. Die Boches waren Verbrecher von Geburt; sie erregten Hass mehr noch als Empörung. Man empört sich nicht wider Satan. Aber Verräter, Spione, schlechte Franzosen waren großartige Objekte der Entrüstung für unsere tugendhaften Herzen. Mit sorgfältig einstudiertem Abscheu maß ich diejenige mit dem Blick, die von da an nur noch ‹die Deutsche› hieß. Endlich hatte das Böse nun doch Gestalt angenommen.
    Mit wahrem Überschwang machte ich die Sache des Guten zu meiner eigenen. Mein Vater, der seinerzeit wegen Herzbeschwerden zurückgestellt worden war, wurde nun dennoch eingezogen und den Zuaven zugeteilt. Ich besuchte ihn mit Mama in Villetaneuse, wo er seinen Dienst ableistete: Er hatte sich einen Bart stehenlassen, und der Ernst seiner Züge unter der ‹Chéchia› machte großen Eindruck auf mich. Ich musste mich seiner würdig erweisen. Auf der Stelle legte ich ein Zeugnis von mustergültigem Patriotismus ab, indem ich eine Zelluloidpuppe zertrat, auf der ‹Made in Germany› stand und die im Übrigen meiner Schwester gehörte. Nur mit Mühe hinderte man mich, mit der gleichen schmählichen Aufschrift versehene silberne Messerbänkchen aus dem Fenster zu werfen. In allen Vasen stellte ich Alliiertenfähnchen auf. Ich spielte den tapferen Zuaven, das heldenhafte Kind. Mit bunten Farbstiften schrieb ich: ‹Hoch Frankreich!› an alle Wände. Die Erwachsenen belohnten meine extreme Fügsamkeit. «Simone ist furchtbar chauvinistisch», pflegte man mit amüsiertem Stolz zu erklären. Ich nahm das Lächeln in Kauf und genoss das Lob. Irgendjemand machte Mama ein Stück horizontblaues Offizierstuch zum Geschenk; eine Schneiderin schnitt daraus für meine Schwester und mich Mäntel genau nach dem Muster der Militärmäntel zu. «Da seht nur, sogar ein Gürtel ist hinten daran», sagte meine Mutter zu ihren bewundernden oder sich wundernden Freundinnen. Kein anderes Kind trug ein derart originelles, derart französisches Kleidungsstück: Ich fühlte mich dadurch zu etwas Besonderem ausersehen.
    Es gehört für ein Kind nicht viel dazu, ein kleiner Affe zu werden; früher schon trat ich gern in Erscheinung, aber ich weigerte mich, bei den von Erwachsenen inszenierten Komödien mitzutun; da ich jetzt zu alt war, um mich von ihnen streicheln, verwöhnen, hätscheln zu lassen, verlangte mich umso heftiger nach ihrer Anerkennung. Sie schlugen mir eine Rolle vor, die leicht zu spielen und außerdem kleidsam war: Ich stürzte mich eifrig darauf. Mit meinem horizontblauen Mantel angetan, sammelte ich Spenden
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