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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Autoren: Simone de Beauvoir
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da an eng mit den weißlichen Stäbchen; ich trug kein Verlangen mehr danach, erschienen sie mir doch jetzt wie ein fragwürdiger Kompromiss zwischen Leckerei und Medikament.
    Ich erinnere mich dennoch an einen Fall, in dem das Wort nicht die Oberhand über meine Einsicht gewann. Während der Ferien auf dem Lande wurden wir oft zum Spielen zu einem entfernten kleinen Vetter mitgenommen; er wohnte in einem schönen Haus inmitten eines großen Parks, und ich unterhielt mich gut mit ihm. «Dieser arme Idiot», sagte eines Abends mein Vater, als er von ihm sprach. Sehr viel älter als ich, kam mir Cendri schon deswegen ganz normal vor, weil ich ihn so gut kannte. Ich weiß nicht, ob mir jemand Idioten gezeigt oder beschrieben hatte; jedenfalls stellte ich sie mir mit einem nichtssagenden Lächeln und leeren Augen vor. Als ich Cendri wiedersah, suchte ich vergebens, dieses Bild mit dem seinen in Einklang zu bringen; vielleicht glich er im Innern, ohne dass man es ihm äußerlich ansah, dennoch einem Idioten, aber etwas in mir sträubte sich, ernstlich daran zu glauben. Aus dem Wunsche heraus, die Sache klarzustellen, dazu aber auch von dunklem Groll gegen meinen Vater geleitet, der meinen Spielkameraden derart beleidigt hatte, fragte ich seine Großmama: «Ist Cendri wirklich ein Idiot?» – «Aber nicht doch!», antwortete sie in gekränktem Ton. Sie musste doch ihren Enkel kennen. Konnte möglicherweise Papa sich im Irrtum befinden? Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.
    Ich hing nicht sonderlich an Cendri; der Zwischenfall setzte mich zwar in Erstaunen, ging mir aber nicht nahe. Die schwarze Magie der Worte wurde mir erst offenbar, als sie mich im Herzen traf.
    Mama hatte gerade zum ersten Mal ein tangofarbenes Kleid an. Louise bemerkte daraufhin zu dem Stubenmädchen von vis-à-vis: «Haben Sie gesehen, wie sich unsere Gnädige heute aufgeputzt hat? Ist sie nicht wirklich überspannt?» An einem anderen Tage unterhielt sich Louise unten im Hausflur mit der Tochter der Hausmeistersfrau; zwei Stockwerke weiter oben saß Mama am Flügel und sang. «Ach Gott», meinte Louise, «unsere Gnädige schreit auch immer, als ob sie am Spieß steckte.» – ‹Überspannt›, ‹als ob sie am Spieß steckte.› Diese Ausdrücke hatten für meine Ohren einen abscheulichen Klang: Inwiefern betrafen sie Mama, die doch schön, elegant und zudem musikalisch war? Und dennoch hatte Louise das alles gesagt. Wie sollte ich dem begegnen? Gegen andere Leute wusste ich mich zu wehren; sie aber war die Gerechtigkeit und die Wahrheit in Person, und der Respekt, den ich vor ihr hatte, untersagte mir, ein Urteil über sie zu fällen. Es hätte nicht genügt, ihren Geschmack in Zweifel zu ziehen; um ihre Bosheit zu neutralisieren, musste man sie einem Anfall von schlechter Laune zuschreiben und damit unterstellen, dass sie sich mit Mama nicht gut stand; in diesem Fall jedoch musste eine von ihnen beiden im Unrecht sein! Nein, ich wollte, dass beide sonder Fehl dastünden. Ich gab mir Mühe, Louises Worte von jedem Sinn zu entkleiden: Nur bizarre Laute waren ihrem Munde aus Gründen entschlüpft, die mir verborgen blieben. Es gelang mir nicht unbedingt. Von da an kam es vor, dass mich, wenn Mama eine auffallende Toilette trug oder mit lauter Stimme sang, eine Art von Unbehagen befiel. Da ich andererseits die Erfahrung gemacht hatte, dass man nicht allen Aussprüchen Louises Beachtung schenken durfte, hörte ich nicht mehr mit der gleichen Gefügigkeit auf sie wie zuvor.
    Immer bereit, mich zurückzuziehen, wenn meine Sicherheit mir bedroht vorkam, verweilte ich gern bei Problemen, hinter denen ich keine Gefahr vermutete. Das der Geburt zum Beispiel machte mir wenig zu schaffen. Man hatte mir zunächst erzählt, die Eltern kauften sich ihre Kinder; nun, diese Welt war so groß und mit so viel unbekannten Wunderdingen angefüllt, dass es ja sehr wohl auch irgendwo ein Babydepot geben mochte. Allmählich verblasste dieses Bild, und ich begnügte mich mit einer etwas vageren Lösung: «Gott erschafft die Kinder.» Er hatte ja auch die Erde aus dem Chaos erschaffen und Adam aus einem Erdenkloß geformt. Es wäre also gar nichts so Außergewöhnliches, wenn er in einem Babykörbchen einen Säugling entstehen ließ. Dieses Zurückgreifen auf Gottes Willen lullte meine Neugier ein; was die Sache im Ganzen betraf, fand sie sich damit erklärt. Hinsichtlich der Einzelheiten sagte ich mir, dass ich sie sicherlich nach und nach herausbekommen
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