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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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schien es, als sei ein grüner Regen gefallen. Sprudelfrisch sproß das Frühlingsgras aus der Erde. Die Felsen waren bunt gemustert, die Luft sanft und voll Blütenduft. Talwärts gingen die Felsen in ein purpurnes Rot über. Der Gipfel lag in einer Wiege schwebender weißer Wolken.
    Am Hang, auf der zu den Tausend Stieren abfallenden Seite, sprudelte eine Quelle zwischen ein paar vereinzelten Kiefern. Dort holte Memed das Wasser. Alles lag im strahlenden Sonnenschein. Die Distelplatte mit ihren Bäumen, Disteln und Felsen schwamm im Licht.
    Hatçe lag vor dem Eingang der Höhle, den Kopf auf Iraz' Knien. Iraz suchte ihr die zahlreichen Läuse ab. Den ganzen Winter hatten sie in der Höhle zugebracht. Ihre Wohnstatt war bald behaglicher als das Haus manches reichen Dorf-Agas geworden. Den Boden hatten sie mit Wermutkraut ausgelegt. Darüber waren kunstreich gewebte YürükenKelims gebreitet, aus deren Farben ein einziger Frühling leuchtete, die Brautgabe des Stammesführers der Saçikarali. An den Wänden hingen goldschimmernde Hirschfelle und mächtige Geweihe.
    Sie hatten einen harten Winter hinter sich. Wenn der Orkan über den Gipfel raste und die Schneestürme unbarmherzig tobten, hatten sie jede Nacht den Tod vor Augen, wenn auch das Feuer in der Höhle bis zum Morgen brannte. Wohl anderthalb Monate lang hatte Memed sich damit abgemüht, für den Rauch ein Abzugsloch zu schaffen, aber es nützte nichts. Der Rauch füllte die ganze Höhle, und sie mußten selbst im schlimmsten Unwetter nach draußen, um nicht zu ersticken. Wenn sie von der bitteren Kälte zu erstatten drohten, wichen sie zurück in die erstickende Wärme.
    Was sie an Fellen, Decken und Teppichen besaßen, legten sie über sich und krochen darunter dicht zueinander. War die Nacht überstanden, ging Memed auf die Hirschjagd, während die Frauen kochten und strickten. An Fleisch hatte es ihnen den ganzen Winter hindurch noch keinen Tag gemangelt. Was sie sonst zum Leben brauchten, Mehl, Öl, Salz und alles andere, schaffte Ali der Hinkende herbei. Aber selbst er kannte ihren Schlupfwinkel nicht. Er versteckte die Vorräte immer in einer Höhle am Fuße des Berges, und Memed holte sie von dort ab. Um ihre Spuren im Schnee zu verwischen, zogen sie jedesmal, wenn sie die Höhle verließen, ein dickes Bündel Reisig von Schwarzdornsträuchern hinter sich her, deren Spur nach einer halben Stunde verschwindet. Durch dieses unfehlbare Tarnmittel konnten die Verfolger auf dem ganzen Alidağ stets nur unberührten Schnee finden.
    »Mustafa Aga hat mit der Amnestie wohl doch gelogen«, meinte Hatçe.
    »Sie wird schon schon kommen. Nur Geduld, Mädchen. Hinter jedem Berg geht die Sonne auf«
    Die beiden Frauen waren zäh und dürr geworden. Ihre Augen schienen doppelt so groß als vordem, aber sie hatten einen lebendigen, zuversichtlichen Glanz. »Manchmal kommt mir alles wie ein Traum vor«, murmelte Hatçe. »Wie wir hier auf dem Gipfel hausen und was wir in dieser kurzen Zeit alles erlebt haben ... «
    Wenn gerade nichts anderes zu tun war, lehrte Memed die beiden Frauen, mit der Waffe umzugehen. Iraz hatte eine ruhige Hand und war bald ein treffsicherer Schütze geworden; Hatçe dagegen konnte ihren Abscheu vor dem Schießzeug nicht überwinden. »Ach, ich wünschte, dies alles hätte bald ein Ende«, seufzte sie.
    Iraz hatte Tränen in den Augen. »Jetzt steht das grüne Korn in der Çukurova kniehoch. Es dauert nicht mehr lange, bis die Ähren erscheinen. Die Ameisen kommen aus ihren Bauten und wimmeln in der Sonnenwärme über die Wege ... Ach, der Boden von Adaca ... Bevor die Amnestie kommt, muß Memed Rizas Mörder getötet haben. Ich wollte, ich könnte es selbst tun ... Wenn es keine Amnestie gibt, dann gehen wir irgendwohin, wo uns niemand kennt, geben uns andere Namen ... Wir könnten uns ja gleich aufmachen, aber erst müßten wir Memed seinen Plan mit Abdi ausreden.«
    »Ach, das ist alles so verworren«, stöhnte Hatçe.
    »Ja. Mit mir ist es auch ganz sonderbar«, sagte Iraz. »Manchmal verlangt es mich nicht mehr nach Vergeltung für Riza, dann sage ich nur: ‚Du hast ja in Memed wieder einen Sohn gefunden.' Und dann wieder schreit es aus der Brust, an der Riza getrunken hat, nach Blutrache, und mein Herz sagt: ‚Nimm die Flinte und töte Ali, komme was da wolle!'«
    »Nur Geduld. Morgen sieht alles anders aus. Was glaubst du, wie mir zumute ist? Ich habe eine solche Furcht in mir ... «
    »Fängst du wieder damit an?« rief Iraz
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