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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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nachdenklich den Kopf »Zu welchem Ende wird dies nur führen?«
    Die Leute waren verwirrt und ratlos. Aber als dann die Ernte eingebracht war, bekam Abdi Aga von niemandem auch nur ein Korn Weizen zu sehen. Ali der Hinkende und die anderen Aufseher gingen vergebens von Haus zu Haus. Jeder, den sie an seine Abgabenpflicht mahnten, pries den Aga und verwünschte Memed, der ihn von Haus und Hof verjagt hatte. Ein Jammer, den geliebten Aga darbend in der Fremde zu wissen, ohne ihm helfen zu können! Aber sie hatten ja selbst nichts.
    »Nächstes Jahr gibt es, wenn Allah will, eine bessere Ernte«, sagten sie, »dann wollen wir ihm um so mehr geben ... Wir wollen hungern und alles unserem Aga geben. Fünf Dörfer stehen auf der Distelplatte, die alle unserem Aga Opfer bringen wollen ... «
    »Seit die Distelplatte ihren Namen bekam, hat es noch keine solche Ernte hier gegeben. Warum lügt ihr? Sagt es doch frei heraus, daß wir seinen Anteil nicht anerkennen. Sagt, daß wir dem Aga nicht einmal eine Krume von unserem Brot abgeben.«
    Die Bauern seufzten: »Oh, unsere Augen sollen auslaufen, unser Aga muß in der fremden Stadt dahinvegetieren, und wir können ihm nicht seinen Anteil geben. Wo gibt es denn das? Unser Leben gehört unserem Aga. Möge Ince Memed verrecken!«
    Die alte Hürü war außer sich vor Freude darüber, daß sie nicht den ganzen Sommer umsonst redend umhergezogen war. Sie färbte sich die weißen Haare mit Henna und band statt des weißen Kopftuchs leuchtend grüne und rote Seidentücher um, wie sie zur Festtracht der jungen Mädchen gehören. Sogar einen seidenen Rock trug sie, hängte sich drei Goldstücke um den Hals und kramte auch noch die bunte Glaskette aus ihrer Jugendzeit hervor. Um die Hüften schlang sie sich eine tripolitanische Seidenschärpe.
    »Hürü ist wieder jung geworden«, lachten die Leute, wenn sie übermütig durch das Dorf tänzelte und dabei so gewagte Lieder sang, daß es den Mädchen die Röte ins Gesicht trieb. Als Abdi Aga erfuhr, daß die Bauern sich unter allen möglichen Ausflüchten weigerten, ihm seinen Anteil zu geben, entfaltete er eine fieberhafte Tätigkeit. Der Schreiber mußte wieder eine neue Alarm-Depesche nach Ankara aufsetzen. Dann lag Abdi dem Landrat und dem Kommandant der Gendarmen so lange in den Ohren, bis erneut ein Aufgebot von Gendarmen nach Değirmenoluk beordert wurde. Hürü wurde in einem Haus eingesperrt, die Bauern neuen Drangsalierungen unterworfen und zum Verhör wie eine Herde Schafe hin und her getrieben.
    Es nützte alles nichts. In allen fünf Dörfern der Distelplatte blieben sie verstockt bei der Behauptung, sie hätten eine Mißernte gehabt. Es kam so weit, daß sich der Bezirksvorsteher selbst hinbemühen mußte. Mit starren, einfältigen Gesichtern blickten ihn die Leute an. Schließlich nahm Ali der Hinkende das Wort.
    »Für unseren Aga geben wir unser Leben, wenn es sein muß. Hätten wir auch nur ein Körnchen eingebracht, mit tausend Freuden hätten wir es ihm geopfert. Aber wenn wir dieses Jahr nicht verhungern, dann können wir von Glück sagen. Ich bin des Agas Aufseher, und ich muß genauso Hunger leiden wie alle anderen auch.«
    Der Bezirksvorsteher glaubte von all den Beteuerungen kein Wort und ließ jedes Haus nochmals gründlich durchsuchen. Nirgends war auch nur ein nennenswertes Maß Getreide zu finden. Was mochten die Leute mit der Ernte angefangen haben? Es war und blieb ein Rätsel.
    Von Tag zu Tag besprach man in der Kreisstadt, was sich auf der Dikenlidüzü zutrug. Endlich hatte sich auch für die einsame Hochebene das Tor zur Außenwelt geöffnet. Abdi Aga raufte sich in ohnmächtiger Wut Haare und Bart. Zu allem Unheil hatte ihn dieser Tage auch noch die Nachricht erreicht, daß Hüseyin Aga in Aktozlu nachts in seinem Bett erschossen worden war. Wer anders konnte der Täter sein als Ince Memed?
    Sergeant Asim war ein unerschrockener Mann, ein Wolf der Berge, aber all seine Tapferkeit reichte nicht aus, Ince Memed dingfest zu machen. Er bekam manches harte Wort von seinen Vorgesetzten zu hören. Seit man angefangen hatte, sich auf dem Basar über den Bärenkerl lustig zu machen, der sich von einem Däumling um den kleinen Finger wickeln lasse, wagte er kaum noch über die Straße zu gehen. Er war in seiner Ehre gekränkt und brannte darauf, die Scharte auszuwetzen.

32
    Der Alidag war tief eingeschneit. Die Farbe des froststarren Himmels über ihm unterschied sich nicht von der des Berges. Die endlose Weiße
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