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Memed mein Falke

Memed mein Falke

Titel: Memed mein Falke
Autoren: Yasar Kemal
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Gefängnis kennst du ja. Rechts davon ist die Gendarmeriestation. Wenn du daran vorbei bist, kommt gleich ein alleinstehendes Haus. Es steht einzeln für sich und hat einen langen Kamin, der wie ein Minarett aussieht. Du kannst es daran erkennen, wirst es nicht verfehlen. Ein langes, zweistöckiges Gebäude; die anderen Häuser dort sind alle einstöckig. Abdi Aga schläft allein, in dem Zimmer, das nach Westen liegt. Die Haustür ist verriegelt, aber da ist ein kleiner Spalt. Du mußt deinen Dolch hineinstecken und den Riegel aufdrücken.«
    Memed stand ohne ein Wort auf, machte das Pferd los und ritt schnell davon. Das Pferd lief mit flatternder Mähne wie der Wind. Erst als das Geräusch der Mühle an seine Ohren drang, hielt er einen Augenblick inne und lauschte. Dann ritt er im Schritt weiter, während er Gewehr und Pistole durchlud.
    Er überquerte den Basar. In den Kaffeehäusern brannte noch Licht. Ein paar Männer sahen dem Reiter erstaunt nach; er bemerkte es nicht. Daß ein Bewaffneter auftauchte, war in diesen Tagen nichts Außergewöhnliches, und die Neugierigen wandten ihre Aufmerksamkeit bald wieder von ihm ab.
    Er ritt die Straße neben der Moschee hinauf Auf der linken Seite erschien das Haus mit dem hohen Kamin, und er stieg ab. An einem tiefhängenden Ast des großen Maulbeerbaumes im Hof machte er das Pferd fest und öffnete die Tür. Oben im Haus brannte Licht. Er nahm drei Stufen auf einmal. Frauen und Kinder kamen überall zum Vorschein; ein fürchterliches Geschrei brach los, als sie Memed erkannten.
    Ohne Zögern schritt er auf das beschriebene Zimmer zu. Abdi Aga reckte sich bei seinem Eintreten mit ausgebreiteten Armen im Halbschlaf. »Was ist?« murmelte er und streckte sich wieder.
    Memed trat an das Bett, packte ihn am Arm und schüttelte ihn. »Aga! Ich bin da!«
    Abdi Aga riß die Augen auf, er starrte einen Augenblick ungläubig. Dann stand das Entsetzen in seinen Augen, die nur noch das Weiße zeigten. Im Haus war das Chaos ausgebrochen.
    Memed hielt sein Gewehr gegen Abdis Brust. Dreimal drückte er ab. Der Raum lag nun im Dunkel; der Luftzug hatte die Lampe ausgeblasen.
    Mit Blitzesgeschwindigkeit raste Memed die Stufen hinab, sprang auf das Pferd, während die inzwischen alarmierten Gendarmen ziellos das Feuer eröffneten. Die Schüsse klatschten hinter ihm auf das Pflaster. Bei Sonnenaufgang erreichte er das Dorf. Das Pferd war schaumbedeckt und dunkel vor Nässe. Auch Memed lief der Schweiß den Rücken hinab. Die Schatten erstreckten sich endlos nach Westen. Das nasse Fell des Pferdes glänzte im Licht.
    Memed hielt auf dem Dorfplatz an. Hochaufgerichtet, einem Standbild gleich, saß er im Sattel. Langsam versammelten sich die Leute von Değirmenoluk um ihn. Schweigend kamen sie alle, die Alten und die Jungen. Fast konnte man sie in der großen Stille atmen hören. Aller Augen waren stumm auf Memed gerichtet. Niemand brach das Schweigen. Das Pferd ging ein paar Schritte, dann stand es wieder. Der Reiter hob den Kopf, seine Blicke wanderten über die Menge. Mutter Hürü, mit weitaufgerissenen Augen in dem eingeschrumpften blutleeren Gesicht, wartete auf ein Wort, auf ein Zeichen von ihm. Wieder kam Bewegung in das Pferd. Memed ritt auf die Alte zu.
    »Mutter Hürü! Es ist geschehen. Nun habt ihr nichts mehr von mir zu fordern. Vergelt's Gott.«
Er wandte sein Pferd und galoppierte in einer schwarzen Wolke aus dem Dorf, in die Richtung des Alidağ. Bald war er den Blicken entschwunden.
Es war die Zeit des Pflügens. Alles Volk aus den fünf Dörfern der Distelplatte strömte zusammen. Die Mädchen trugen ihre schönsten Kleider. Die alten Frauen hatten schneeweiße Kopftücher umgetan. Bei Trommelschlag wurde ein großes Fest gefeiert. Selbst Durmuş Ali, so krank er war, hüpfte ausgelassen im Reigen. Eines Morgens in der Frühe zogen alle gemeinsam auf die Distelfelder und steckten sie in Brand.
    Von Ince Memed hat man nie wieder etwas gehört.
    Die Bauern der Distelplatte brennen noch heute, jedes Jahr, bevor das Pflügen beginnt, unter fröhlichem Treiben die Distelfelder ab. Dann rasen die Flammen drei Tage und drei Nächte über die Ebene, und die Disteln geben ihre singenden Töne von sich. Hoch oben, auf dem Gipfel des Alidağ, erscheint eine Feuerkugel. Drei Nächte lang ist der Berg dann taghell erleuchtet.
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