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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer
Autoren: Charles R. Maturin
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Moment sein Herz in Zuversicht aufzuatmen.
    »John, was hast du nebenan gesehen?«
    »Nichts, Herr Oheim.«
    »Du lügst. Ein jeder ist drauf aus, mich zu betrügen, zu bestehlen.«
    »Beides liegt mir gleich fern, Herr Oheim.«
    »Nun gut. Was war es dann, das dich so sehr – das deine Aufmerksamkeit geweckt hat?«
    »Es war nur ein Bild, Herr Oheim.«
    »... nur ein Bild, Herr Oheim – und der darauf gemalt ist, geht noch um.« John, obgleich noch ganz unter dem Eindruck der eben durchlebten Empfindungen, konnte nicht umhin ungläubig dreinzusehen. Doch der Oheim raunte ihm zu: »John«, flüsterte er, »John, sie sagen, ich sterbe an der und der Sache. Der eine behauptet, es sei der Mangel an Nahrung, der andere meint, es fehle mir an der gehörigen Medizin. Aber, John« – und bei diesen Worten nahm des alten Melmoths Antlitz ein entsetzliches, totenhaft entgeistertes Aussehen an – »woran ich sterbe, das ist das Grauen. Jener Mann« – und er streckte den klapperdürren Arm gegen die Tür des Kabinetts, als redete er von einem Menschen aus Fleisch und Blut – »jener Mann da drinnen, dies habe ich alle Ursache zu glauben, ist noch immer am Leben.«
    »Aber wie soll das nur möglich sein, Herr Oheim? »entfuhr es John. »Das Bild trägt die Jahreszahl 1646!«
    »Du hast es gesehen – du hast es also bemerkt«, sagte der Oheim. »Nun wohl«, – und er wiegte ein wenig den Kopf auf der harten Unterlage, nickte dann wieder vor sich hin und faßte plötzlich mit einem unbeschreiblichen Blick nach Johns Hand, indem er ausrief: »Du wirst ihn selbst sehen, wiedersehen, er ist noch am Leben!« Hierauf sank er auf seinen Kopfkeil zurück und fiel in einen leichten Schlummer oder in eine Betäubung, die Augen starr geöffnet und weiterhin auf John geheftet.
    Im Hause war es nun vollkommen still, und John hatte Zeit und Muße genug, um zu überlegen. Mehr Gedanken stürzten auf ihn ein, als ihm lieb gewesen wäre, doch er mochte keinen von sich weisen. Und so überdachte er denn seines Oheims Gewohnheiten und Eigentümlichkeit, betrachtete dies innere Bild von allen Seiten, drehte es in seinem Geiste um und um, bis er endlich zu sich sprach: »Er ist wohl der letzte Mensch auf Gottes Erdboden, abergläubisch zu sein.
    Sein Lebtag hat er an nichts anderes gedacht als an Warenpreise, an Börsen-Notierungen, an meine College-Ausgaben, welche ihm schwerer auf der Seele gelegen denn alles. Und solch ein Mensch sollte nun am Grauen sterben, am Entsetzen? An einer so lächerlichen Angst wie der, daß ein Mann, der vor 150 Jahren gelebt hat, auch heute noch lebe? Dennoch – er stirbt daran.«
    Der alte Melmoth schien jetzt in tiefer Ohnmacht zu liegen. Seine Augen hatten den Schimmer von Ausdruck, welchen sie bisher verrieten, vollends verloren, und auch die Hände, bislang so konvulsivisch nach der Decke tastend, hatten ihre zuckenden, zitternden Bewegungen aufgegeben und lagen nun starr obenauf wie die Krallen eines Vogels, welcher Hungers gestorben ist – so mager, so gelblich, so totenstarr gespreizt. John, mit dem Bilde des Todes unvertraut, sah darin lediglich ein Anzeichen beginnenden Schlafes und gab ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu wollen, einer Regung nach, welche ihn abermals nach dem erbärmlichen Talglicht greifen und sich ins angrenzende, verbotene Gemach wagen ließ – in das Spuk-Zimmer dieser Behausung. Aber Johns Bewegungen machten den Sterbenden auffahren: Plötzlich saß er kerzengerade in seinem Bett. Zwar konnte John dies nicht sehen, weil er sich jetzt in dem Kabinett aufhielt. Indes vernahm er das Ächzen oder vielmehr das erstickte und gurgelnde Atemgerassel, welches den schrecklichen Endkampf zwischen den Kräften des Leibes und jenen des Geistes ankündigt. Er schrak zusammen und fuhr herum. Aber im Herumdrehen war es ihm, als ob die Augen des Porträts, auf welche er die eigenen geheftet, seiner Wendung gefolgt wären, sich bewegt hätten – und er stürzte hinaus an seines Oheims Lager.
    Der alte Melmoth starb noch im Verlaufe der nämlichen Nacht, und er starb genau so, wie er gelebt hatte: in einer Art Delirium des Geizes. Niemals hätte John eine so grauenvolle Szene für möglich gehalten, wie diese letzten Stunden sie boten. Der Sterbende fluchte und lästerte Gott um dreier Halfpence willen, um die ihn, wie er sagte, vor mehreren Wochen sein Stallknecht beim Herausgeben betrogen hatte, als es galt, das Heu für das einzige, halbverhungerte Pferd im Stall zu bezahlen. Dann
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