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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer
Autoren: Charles R. Maturin
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seinem Essay »De l’essence du rire« am sensibelsten mißverstanden hat.
    Folgerichtig erfüllt sich Melmoth’s Fluch aufs schrecklichste an dem einzigen Wesen, dem er nicht nur als dämonischer Schatten, sondern als Mensch und mehr und mehr sogar als Liebender gegenübertritt. Mit Immalees verwunschenem Eiland scheint das helle Bild der rationalistischen Natur-Utopie auf, das Gegenstück zu den finsteren Panoramen der Unterdrückung, die der Roman reiht und die Melmoth selbst von der Insel aus der Freundin als Ansicht und Inbegriff von Welt demonstriert. Immalee ist keine glückselige Wilde eines verklärten Urzustands – die Schrecknisse mythisch befangener Zeitalter wüten nur eine Insel weiter –, sondern zunächst eher eine »anima naturaliter Christiana«, eine auch allegorische Figur für die humane Verheißung eines naturhaften, freien Christentums, das Maturin wohl als eigentliche Religion bekannte, zweifelnd allerdings angesichts der Geschichte, ob sie jemals eine freundliche Welt heraufführen könne oder zum Untergang bestimmt sei, zur Rettung erst im Jenseits wie Immalee.
    Unter den Kritikern des Romans ist die Frage beliebt, warum denn Melmoth seinen Handel zwar aufs äußerste verzweifelten, aber immer moralisch überzeugten Menschen anbietet, nicht einem völlig zerstörten Gemüt, das den Tausch einfach annimmt. Die Psychologie und die spirituelle Entschiedenheit der Figur verbieten solche Auflösungen. Melmoth hat eine widersprüchliche Affinität gerade zu den reflektierenden, gewissenhaften Geistern, zu denen er noch halb gehört (er ist kein Krämer und kein Ungeheuer gotischer Stereotypie), und deren Überwindung andererseits stets der wahre Genuß der Hölle ist, an der Melmoth traurig und gierig teilhaben will. Und endlich liegt eben darin und erst darin der verzweifelte Optimismus des Romans: Melmoth ist in der Not der Individuen, denen er eine schlimme Rettung anbietet, das Stimulans ihres seelischen und praktischen Selbstbehauptungswillens.
    Fünfzehn Jahre später schreibt Balzac (der von »Melmoth« schon für seinen »Le Centenaire« – 1822 – profitierte) eine realistische Variante: »Melmoth reconcilie«. In der Hölle der Pariser Börse schreckt die ewige Verdammnis niemanden mehr, ja sie wird einfach vergessen, Melmoth’s Vertrag ist als Papier zum Kurse von 700 000 Francs im Handel.

     
    Des Melmoth zweiter Auftritt geschieht in einer Szenerie voller Ruinen, maurischer, griechischer, römischer. Das Licht kämpft mit der Finsternis, ein Blitz fährt »krachend in die Reste eines römischen Turms«, zugleich ein Liebespaar erschlagend, während Melmoth in sein fürchterliches Lachen ausbricht.
    Das Arrangement ist komplett. Was Maturin hier auf ein paar Seiten an Versatzstück, Vorgang und bedeutender Stimmung zusammendrängt, ist eine gotische Kurzoper. Auf dem Schauplatz überwuchert Natur die rätselhaften Trümmer von Kultur: dieses Thema wird sofort dramatisch, Natur bricht hernieder und zerschmettert nicht nur die Relikte der Historie, sondern auch den höchsten Glanz der Gegenwart: die Liebenden.
    Die Neigung gotischer Romane für zerfallene Gemäuer mag in erster Instanz Bekundung des Triumphs gewesen sein: Abteien und Burgen, die Herrensitze des Feudalismus, waren zerborsten. Aber schon Walpoles Prädilektion verriet sich dem Schlafenden als Zwangshaft, als »architectural nightmare«. Das Verhältnis zu den Ruinen der Vorzeit war ambivalent. Abschied von der Vergangenheit und Faszination durch die Vergangenheit sind von Anfang an ununterscheidbar eins. Was als Monument der Schuld und der Vergeblichkeit einer versunkenen Epoche designiert war, wurde bald Sinnbild einer höchst gegenwärtigen Schuld, einer allgemeinen Vergeblichkeit. Auch die Gewölbe der Inquisition verdankten ihre literarische Beliebtheit nicht nur protestantischer Verve. Sie erlauben eindrucksvolle und scheinbar entrückte Gemälde der Schrecknisse, die in den Kavernen der eigenen Seele lauern, unter den zerbröckelnden Zwingmauern überkommener Autorität.
    Die rätselhafte Mächtigkeit des Fragments, das Ganze als Summe eines Ensembles von redenden Trümmern, war schon Entdeckung der Renaissance gewesen, mehr noch des Barocks, als »neue Elemente eines eigenen, entschieden unklassischeh Emblems« [32] . Die Komposition barocker Allegorien ist starr und selbstgenügsam. Sie ruft keine Trauer hervor, sie zeigt Trauer auf. Vergänglichkeit prangt an ihr als Firnis oder Kokarde, Geschichte ist in
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