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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer
Autoren: Charles R. Maturin
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»glooms of superstition«, Schauer, die sich dem Übernatürlichen oder dessen Schein verdanken, bis zur ganz kunsthaften Kategorie der »terrors of reason«, worunter sie die »Furcht vor dem Unbekannten im Bekannten« versteht, vor dem Zweideutigen, Unnennbaren zwischen Natur und Übernatur. Dieses letzte Moment führt mehr als die beiden ersten, die in eine Wahl des Inventars und der Effekte fallen, in die Methode der Radcliffeschen Romane, die Konstruktion ihrer Spannung, die freilich am Ende immer durch eine »natürliche Erklärung« gelöst werden soll.
    Das Paradoxon des »explained supernatural« war indes spätestens mit Matthew Gregory Lewis’ »The Monk« explodiert. Die delikaten Gefühle der Ann Radcliffe wichen den stürmischen Leidenschaften, die düsteren Stimmungen den abscheulichsten Verbrechen, die zweideutigen Schrecknisse dem unmißverständlichen Wüten höllischer Agenten. Alle Versuchungen des Satans traten in bengalischer Beleuchtung auf den Plan; Verwesung, Vergewaltigung, Inzest, schwärzeste Magie – die Greuel überstürzten sich. Feine Psychologie wandelte sich in wilde Inbrunst. Andeutung und Verschweigen galten nichts mehr, Aussprechen dagegen alles, sehr zum Abscheu vieler Zeitgenossen, die – voran die »Society for the Suppression of Vice« –   versuchten, dem skandalösen Erfolg des Buches Einhalt zu tun, und wirklich einige Änderungen erzwangen.
    In einer gerne zitierten Passage seiner »Gedanken zum Roman« (1799/1800) bringt de Sade die Entstehung der gothic novel mit den Ereignissen der Französischen Revolution in einen allzu simplen Zusammenhang. Immerhin mag der blutige Umbruch der Epoche tatsächlich der letzte Anlaß dazu gewesen sein, den gotischen Roman –   zumindest soweit er auf mehr als auf Trivialitäten hinauswollte – aus den Fesseln der Erbaulichkeit zu reißen. Vor der Szenerie der Revolution, des größten Triumphs und des größten Schocks der Bourgeoisie, taten sich Ausgeglichenheit und Beschwichtigung schwer; und was jahrzehntelang in skrupulöser poetischer Theorie als Kalkulation des Schreckens betrieben worden war, verblieb nun als Kalkulation mit dem Schrecken den Leihbibliotheken [30] .
    Mit der »rationalistischen Dämonie« (ein Begriff Otto Rommels) war es aus. Der Schrecken war von nun an weder rationalisierbar noch rationierbar. Je mehr Angst das Besitzbürgertum vor der eigenen Courage empfand, je mehr es nur noch behaupten, aber nicht mehr enthaupten wollte, je höher die Pyramide seiner Schuldgefühle sich türmte, desto melancholischer wurde seine Literatur. Der Roman, den man bald abwehrend, bald ironisch, bald antiquarisch den gotischen genannt hatte, gewann an spritueller Radikalität, gab sich philosophisch und theologisch, ging auf in einer allgemeinen Umdüsterung des Gemüts und wurde zu einem Kondensationspunkt romantischer Sensibilität. In den Halluzinationen der europäischen Romantik verlor er seine angelsächsische Besonderheit, sein spezifisches, begrenztes Inventar und Baugesetz. Bevor er in der irrationalistischen Woge verschwand, wurde noch einmal sein Motivkatalog in noch nicht dagewesener Totalität versammelt, sein Thema entschlossen zu Ende erzählt und zum Weltprospekt verdichtet. So ist Charles Robert Maturins »Melmoth der Wanderer« wahrhaft, wie oft versichert, »der Schwanengesang des gotischen Romans«. Dazu gehört, daß eine solche Enzyklopädie des Schreckens nicht nur alle Konsequenzen des eigenen Genres zieht, sondern regelrecht das Gegenbild zur aufklärerischen entwirft. Nicht allein aufgrund der Neigungen des Autors ist »Melmoth der Wanderer« gefüllt mit Anspielungen, Anleihen, mit sozialem Stoff und Bildungsgut, mit kulturhistorischen Exkursen und theologischen Räsonnement. Die Absicht ist kaum Bruchlosigkeit der Erzählung, Homogenität und Stimmigkeit der Konstruktion, deren Fehlen zu leicht nachzurechnen ist, wohl aber Vollständigkeit einer schwarzen Weitschau. Die letzte noch mögliche Steigerung der gotischen Gattung strenger Observanz ist hier erreicht. Walpole als Präludium, Ann Radcliffe, Matthew Gregory Lewis und Maturin als der Dreischnitt der gothic novel. Bei Ann Radcliffe lauerte das Schrecknis in der Latenz der Situation, materialisierte sich in der Empfindung der Personen, in ihrer Interpretation des Vorgangs. Bei M. G. Lewis trat es ohne Aura und Dämmerung auf, wütete als Exzeß, als Furor. Bei Maturin ist es ein kosmologisches Verhängnis, angelegt in den tiefsten
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