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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer
Autoren: Charles R. Maturin
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Trieben, dem psychologischen Schicksal der Menschheit, als Trauer und melancholische Ausweglosigkeit fühlbar, um plötzlich als natürliche und gesellschaftliche Katastrophe, als höllisches Blendwerk unwiderstehlich hervorzubrechen.
    Wir sind am Ausgangspunkt. »Alle Farben verschwinden in der Nacht«: so beginnen die Obsessionen der Ann Radcliffe. »Die Verzweiflung führt kein Tagebuch«: das ist die Wut, die gleichsam erstarrte Melodramatik der besten Passagen des »Mönch«. Die gewaltsame und enträtselnde Verbindung beider, Traum und Überwachheit, Furcht vor der Dunkelheit und geblendetes Entsetzen, die Trauer des Subjekts und die der Welt, die Kerker des Ich und die der Inquisition, die Identität beider: Charles Robert Maturin.
     

    Sich Satan verschreiben, was ist das?
    Baudelaire, Raketen LIV
     
    High-hearted man, sublime even in the guilt,
    Whose passions are thy crimes, whose angel-sin
    Is pride that rivals the starbright apostate’s. –
    Wild admiration thrills me to behold
    An evil strength, so above earthly pitch –
    Descending angels only could reclaim thee.
    Maturin, Bertram 3. Akt

     
    Spätestens in den Jahren nach der Französischen Revolution begann sich das literarische Pandämonium zu verwirren. Die Schurken der gothic novel, differenzierter und widersprüchlicher geworden, und die Leitfiguren bürgerlicher Unternehmung, ihrerseits immer bleicher und zerrissener, begannen die gleiche Bewußtseinslandschaft zu bevölkern, um am Ende miteinander zu verschmelzen. Melmoth der Wanderer ist eine solch synkretistische Person. Mephistopheles und Faust, der ewige Jude und die gotischen Übeltäter (Ann Radcliffes Schedoni vor allem und M. G. Lewis’ Mönch Ambrosio) haben zu seinem Wesen und Umriß beigetragen. Melmoth kann der Verdammnis entgehen, wenn es ihm gelingt, einen Nachfolger zu finden, der bereit ist, an seiner Statt in den Kontrakt zu treten. Damit ist eine theologische Dimension des alten Themas verloren und eine menschliche gewonnen. Um seiner Erlösung willen hat Melmoth sich statt an das Jenseits an das Diesseits zu halten.
    Nicht die je noch übersteigende Kraft göttlicher Gnade, durch Reue provozierbar, verspricht Rettung, sondern die Misere des Planeten, die Not menschlichen Fleisches und menschlicher Psyche. Wo immer Drangsal unerträglich sich steigert, Körper und Charaktere zerfallen, hat Melmoth seine Chance, ist Melmoth zur Stelle. So geistert er generationenlang durch die Irrenhäuser, Folterkammern und Elendsquartiere der Epoche. Dies, aber nicht nur dies, ist die soziale Qualität der Figur, die dramaturgische Invention, welche die negative Enzyklopädie des Romans erlaubt, die weltweite Aussicht auf die gesellschaftliche Organisation von Verblendung, Versklavung, Vernichtung. In dieser Sache ist Maturin so direkt und analytisch wie kaum ein Autor seiner Provenienz. Die unverhohlene Gewalt ist ihm fast weniger schrecklich als deren verinnerlichte Form, ihre Entsprechung in der Seele der Menschen, die das Prinzip schlimmer Herrschaft als das allereigenste erleiden. Oder als die blutigen Rituale, in denen sich alle angestauten Aggressionen der Menge an einem Opfer entladen. Der anglikanische Geistliche Maturin hat freilich, der Tradition seiner Familie, seiner Kirche, dem protestantischen Gestus der gothic novel getreu, die meisten Beispiele religiösen Wahns und unfreier Gesellschaft im halbfeudalen, katholischen Spanien gesucht und gefunden. Diese für ihn fast exotische Welt lieferte literarische Drastik, suggestive und bewegte Deutlichkeit der Bilder, der Situationen.
    Bei Melmoth sind die äußeren Attribute der schwarzen Helden (das durchbohrende Auge, die hochgewachsene dunkle Gestalt, die bleichen pathetischen Züge) vollends zum Ausdruck einer auf wahrhaft epochale Weise zerrissenen Psyche geworden. Seine Rettung bedeutet die Vernichtung anderer. Dies ist die Spirale des Melmoth: In seiner unendlichen Einsamkeit nach Kommunikation zu gieren, die die Verdammnis des Partners ist, die Melmoth nicht will und um seiner selbst willen wollen muß, welches Elend nur übersteigbar ist durch höhnische Kälte. [31]
    In diesem desperaten Stolz hungert es Melmoth nur wieder um so stärker nach der Seligkeit einer menschlichen Verbindung. Mehr als in jedem Räsonnement drückt Melmoth seine Situation, die ihm mit der der Welt zu korrespondieren scheint, in seinem Lachen aus, der »einzig verständlichen Sprache des Irrsinns und der Verzweiflung«, das Baudelaire in
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