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Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia

Titel: Melanie - Inside Joke - Claußtrophobia
Autoren: Martin Clauß
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Gedanken „Mist“ sagen.
    Und dann sah sie andere Dinge.
    Dinge, mit denen sie zunächst nichts anfangen konnte.
    Szenen aus ihrer Kindheit.
    Wie sie sich mit dem Küchenmesser in den Handrücken geschnitten hatte, als ihre Mutter sie als Dreijährige für einen Moment aus den Augen gelassen hatte. Sie sah das spritzende Blut und fühlte den Schmerz. Sie fühlte auch den Schmerz des Aufpralls von eben, aber er war längst nicht so stark wie der, den das Messer ihrer kleinen Kinderhand zugefügt hatte. Sie sah ihre Eltern streiten. Dann, wie ihr Vater ihre Mutter schlug. Und dann, wie ihre Mutter ihren Vater schlug, als er betrunken und hilflos vor ihr lag. Das war schlimmer als alles andere, was sie erlebt hatte. Sie hatte geglaubt, diese Dinge nur noch unklar in Erinnerung zu haben, verwischt und ausgebleicht, wie etwas, das lange der Witterung ausgesetzt gewesen war, aber jetzt sah sie jedes Detail davon: die Verzweiflung auf dem Gesicht ihrer Mutter, die Tränen in den Augen ihres Vaters. Keine Tränen der Reue, sondern pure Angst. Angst, dass ihre Mutter ihn totschlagen würde.
    Aber sie sah auch glückliche Szenen. Die Ferien, die sie mit einer Freundin und deren Familie auf den Malediven verbracht hatte, die glücklichsten zwei Wochen ihres Lebens. Sie sah sich hinabtauchen in das türkisblaue Meer, durch einen Fischschwarm hindurch und über einen wirbelnden Ozean aus Farben hinweg …
    Die Farben verblassten, die Welt wurde grau, und sie sah Szenen aus dem Gerichtssaal, von der Scheidung ihrer Eltern, Szenen aus der Schule, und am Ende sah sie sich mit beinahe geöffneter Bluse auf dem Boden von Udos Wohnung winden, und sie fand sich hässlich wie eine billige Hure. Sie konnte erkennen, wie ihre kleinen Brustwarzen hart geworden waren. Sie hörte sich „Ich möchte mit dir schlafen!“ rufen, doch als sie sich der Treppe zuwandte, wo Udos Vater aufgetaucht war, war da keine Treppe mehr, nur eine schwarze Wand aus gewaltigen Baumstämmen, die erbarmungslos schnell auf sie zuraste!
    Und aus.
    Nein!
    Neeeiiiiin!
    Sie machte denselben Aufprall wie eben noch einmal durch, exakt dasselbe Ereignis, und doch erlebte sie es vollkommen anders. Diesmal hatte sie das Gefühl, dass es weitreichender, furchtbarer war. Die Bäume waren mehr als Bäume, sie waren der dunkle Deckel eines Sarges, der über ihr zuklappte. Und sie spürte, wie der Aufprall etwas in ihr zerbrach. Wie Adern platzten, das Blut freigaben. Wie in ihrem Inneren Organe gequetscht wurden. Wie Rippen barsten.
    Der Tod kam. Sie hatte schreckliche Angst davor, spürte keine Ruhe und Gelassenheit. Kein Einverständnis. Sie wollte ihn nicht, aber er näherte sich ihr trotzdem.
    Ihr Gehirn … schien herunterzufahren. Abzuschalten. Es war keine Ohnmacht. Es war endgültiger.
    Nicht einfach nur Ladenschluss.
    Geschäftsaufgabe.
    Ein kurzes Leben , dachte Melanie. Und sie hätte gerne noch einmal aus Leibeskräften geschrien. Oder auch nur geweint oder irgendetwas getan. Sie hätte sich sogar hinter das Steuer eines Autos gesetzt und wäre noch einmal gegen einen Baum gefahren, hätte die Schmerzen und den Schrecken ein weiteres Mal auf sich genommen, nur um noch einmal etwas tun zu können, um noch ein paar Sekunden leben zu dürfen. Jeder Augenblick schien jetzt einen Unterschied zu machen.
    Dann hatte sie das Gefühl der Kälte, spürte sich zusammensacken und kraftlos werden, und sie wunderte sich, warum sie noch immer auf Sendung war, warum ihr Bewusstsein immer noch nicht in einem dunklen Loch verschwunden war, sich ins Universum aufgelöst hatte.
    Hallo Melanie , sagte sie zu sich selbst. Du bist immer noch da. Immer noch. Unsterblich. Nur hast du jetzt keinen Körper mehr. Der Aufprall hat deinen Körper abgeschaltet. Für deinen Geist war er nicht stark genug.
    Und was – kam jetzt?
    Der große Auftritt der Kirche?
    Die Himmelspforten? Würde sie Gott sehen? War sie darauf vorbereitet? Vielleicht. Sie würde ihn akzeptieren, wie er war. Ein alter, weiser Mann oder auch eine Frau, warum nicht, oder eine helle Lichtquelle wie eine kühle Sonne. Egal. Sie würde ihn nehmen, wie er sich ihr bot. Der Bibel keine kleinlichen Vorwürfe machen, wenn sie irgendwo Unrecht hatte. Es war viel zu schön, eine unsterbliche Seele zu haben, um jetzt noch engstirnig und pedantisch zu sein. Es war ein irres Gefühl. Sie hoffte nur, dass er sie nicht so genau ansah. Sie hatte das dumme Gefühl, der letzte geschlossene Knopf ihrer Bluse sei bei dem Aufprall
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