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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Autoren: Wibke Bruhns
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hatten beide bejubelt; als die siegreichen Truppen zurückkehrten, war auch in Halberstadt die Euphorie nicht zu bremsen. Annas Verse zum Empfang der Halberstädter Kürassiere wurden auf allen Straßen gesungen: »Hoch flattert die Standarte im wilden Kriegestanz voran den kühnen Reitern zu Sieg und Ruhmesglanz.«
    Die Geschäfte gingen fortan blendend. Bei I. G. Klamroth wurde arrondiert und expandiert. Die Firmen-Chronik, verfaßt 1908, verzeichnet von 1871 bis 1880 steil nach oben führende Umsätze, von den schweren Rückschlägen in der Gründerkrise 1873 blieb man verschont. Der Autor, Gustavs Sohn und Nachfolger Kurt, beschreibt enthusiastisch »die Aufrichtung des Deutschen Reiches, das mit seinem patriotischen Schwung alle schlummernden Kräfte der Volkswirtschaft erweckte«. Denn, so heißt es weiter, »die fünf Milliarden des Jahres 1871« – gemeint ist die von Frankreich zu zahlende Kriegsentschädigung, neuer Treibriemen der alten deutschfranzösischen Feindschaft – »waren gleichsam das Öl, mit dem die starren Massen der Volkskraft in lebendige Kraft verwandelt wurden, sie brachten die große Maschine in Gang und nun arbeitete sie mit Volldampf.« Kurt sei verziehen. Er hat die erste Hälfte seines Lebens in nationalem Pathos zugebracht. 16 war er 1888, als Wilhelm II. den Thron bestieg – wie kann es denn anders sein.
    Ich merke, wie ich mich allmählich der Schmerzgrenze nähere. Auf dem Weg zu Hans Georg hätte ich mich gern noch bei Louis und Gustav aufgehalten, mich in diesem wunderbaren Jahrhundert in diesem kühlen Preußen bewegt, als die Welt sich den Altvorderen wie ein reifes Zuckerrübenfeld darbot. Wenn du deine Hausaufgaben gemacht hattest, brauchtest du nur zu ernten. Kurt also. Ich habe ihn noch erlebt. Der Großvater starb 1947 – ein gebrochener Mann, dessen Sohn und Erbe als Hochverräter gehenkt worden war, dessen stolze Firma in Trümmern lag, dessen Land, dessen Vaterstadt in Schutt und Asche versunken waren. In seinem prächtigen Haus war die Familie in den Dienstboten-Zimmern zusammengepfercht, während Sowjetsoldaten seine Schlafzimmer, seine Badezimmer besetzt hielten und in den Gesellschaftsräumen mit verdreckten Stiefeln auf den Chippendale-Sofas tanzten.
    An der Wiege ist ihm das nicht gesungen worden. Die stand 1872 in der Woort, wo die Familie seit nunmehr drei Generationen über dem Geschäft wohnte. Mittags wurden die jungen Leute, die als Lehrlinge ebenfalls im Hause lebten, am gemeinsamen Eßtisch verköstigt und erzogen, umwabert von beißendem Guanodunst, der aus den Lagerräumen durch alle Ritzen drang. Erst Kurt bricht mit der Familientradition. Als er 1897 heiratet und – jetzt die vierte Generation – wenig später Teilhaber von I. G. Klamroth wird, sucht er sich ein Domizil außerhalb, ein Haus in der Magdeburger Straße. Lehrlinge werden dort weder verköstigt noch erzogen. Kurt war gar nicht gemeint als Erbe. Gustavs ältester Sohn Johannes Gottlieb sollte es sein, deshalb bekam der die Vornamen mit den Initialen J. G., wie die alte Firma es jetzt verlangte und wie das die Söhne der Nachkommenden erdulden mußten. Aber Johannes hat keine Lust, er will lieber Landwirt werden, und Vater Gustav, liberal wie er ist, läßt ihn gewähren.
    Kurt ist die Notlösung und ein Glücksfall. Mit großer Umsicht tritt er in Vater Gustavs Spuren, wird Stadtverordneter, Kirchenvorstand, Mäzen, führt die Firma souverän durch mancherlei Gefährdungen immer wieder in sicheres Fahrwasser. Aber so weit sind wir noch nicht. Erst mal besucht Kurt das Domgymnasium in Halberstadt bis zu dem, was wir heute Mittlere Reife nennen, und geht anschließend in die Lehre beim Halberstädter Bankhaus Vogler. Dessen Inhaber Ernst Vogler ist ein enger Freund und im Stadtrat politischer Mitstreiter von Vater Gustav. Später wird er auch noch Kurts Schwiegervater – die Klamroth-Söhne hatten ein Händchen dafür, die Töchter ihrer Lehrherren zu heiraten.
    Vor diesen Erfolg setzten die Götter allerdings höchst wilhelminischen Schweiß. Das prüde England der gestrengen Königin Victoria muß ein heiteres Lotterland gewesen sein im Vergleich zum puritanischen Halberstadt, wo Frischverliebte strikte gesellschaftliche Auflagen zu befolgen hatten. Seufzend beschreibt Kurt 1896 in seinem Londoner Ausbildungsjahr, mit welcher Selbstverständlichkeit sich dort bei einem Ball die jungen, unverlobten Paare in eigens dafür hergerichtete »abgedunkelte Plauderecken oder -zimmer«
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