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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Autoren: Wibke Bruhns
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begeben, um »unbeobachtet miteinander zu reden, ohne daß sich irgend jemand etwas dabei denkt«.
    Davon ist in Halberstadt nicht die Rede. Kurt und Gertrud Vogler kennen sich zwar von klein auf, da die Familien befreundet sind. Sie haben wahrscheinlich im Sandkasten zusammen gespielt, auf Kindergeburtstagen miteinander Blödsinn gemacht und sich ohne Probleme geduzt. Jetzt ist das »Sie« die offizielle Anrede, Einladungen zum Tennisspielen im Sternenhaus-Garten, der familiären Sommer-Residenz vor den Toren der Stadt, richtet Kurt an das »sehr verehrte gnädige Fräulein«, und auf Tanzfesten hat Gertrud eine »Ehrendame«.
    Das Dumme ist nur: Die jungen Menschen haben sich ineinander verguckt und sind seit November 1893 heimlich »versprochen«. Anders ging das ja nicht mit dem Vergucken. Kurt ist zu der Zeit 21, Gertrud 18. Und Kurt ist noch nichts. Zwar hat Bankier Vogler ihn persönlich für seinen Job als künftigen Inhaber der Firma I. G. Klamroth ausgebildet und ihm im Zeugnis bescheinigt, er berechtige zu den schönsten Hoffnungen. Aber das heißt ja nicht, daß der junge Mann seiner Tochter zu nahe kommen darf. Jedenfalls jetzt noch nicht – und damit beginnt für die beiden Verliebten eine fast vierjährige Leidenszeit.
    Kurt wird zu Ausbildungszwecken in die Welt geschickt, und wenn er in Halberstadt ist, gibt es im Hause Vogler Konversation zum »Thee« und einen Handkuß für das Fräulein Braut, die jedoch von niemandem als solche zur Kenntnis genommen wird. Natürlich kennen die Eltern das »Geheimnis«, aber sie sprechen nicht darüber. Mama Vogler hat ihrer Tochter zu verstehen gegeben, daß sie nicht öfter als alle zwei Wochen einen Brief von Kurt im Haus sehen will. Also werden verschwiegene Freundinnen und entfernte Vettern beauftragt, Umschläge in eigener Handschrift an Gertrud zu adressieren, die Kurt dann horten und für seine unerlaubten Episteln verwenden kann. Es ist schwer vorstellbar, daß Mutter Vogler den Trick nicht durchschaut. Aber irgendein Schein bleibt gewahrt.
    Sich zu widersetzen, geht nicht. Woanders ist das durchaus möglich, wie Kurt in London erfährt. Seine gleichaltrigen Freunde, schreibt er an Gertrud, Söhne »erster Häuser«, gingen mit ihren Eltern »respektvoll, aber gleichberechtigt« um: »Es ist nicht das Unterordnen und pietätvolle Ausführen der Wünsche der Eltern wie bei uns.« Wenn dem Sohn »der Wunsch des Vaters nicht paßt, so erklärt er demselben dies in aller Ruhe«. Jeder sei eben »sein eigener Herr und thut, was er will«.
    Nicht so Kurt. Zwar bäumt sich der folgsame Sohn schon mal auf – jedenfalls brieflich. Doch als er zurück ist in Halberstadt – die Verlobung ist immer noch nicht offiziell, weil Kurt sich erst als Firmen-Junior etablieren soll – verläßt Gertrud fluchtartig die Stadt für mehrere Wochen, damit ihnen nicht aus Versehen bei gemeinsam besuchten Einladungen oder Theaterabenden ein vertraulicher faux pas passiert, der beide ins Gerede bringen könnte. Maulend schreibt Kurt: »Was für entsetzliche Schranken und welche Rücksichtnahmen uns die moderne (!) Gesellschaft aufzwingt!« und er bewundert sein »verständiges Trudelchen, die tapfer die Zähne aufeinander beißt und das thut, was unter den verdrehten Umständen, die sich leider nicht ändern lassen, das Richtige ist«.
    Derlei Krampf ist hundertmal beschrieben worden in der Literatur – wir kennen das nicht nur aus »Effi Briest«. Doch hier handelt es sich nicht um Kunstfiguren. Es sind richtige Menschen, deren Alter sich mit meiner frühen Kindheit noch gerade überlappt. Ich sehe Gertruds pfiffige Braut-Fotos, als es 1897 endlich soweit ist, und ich höre den schrillen Alte-Damen-Sopran, mit dem nach dem Krieg die Großmutter uns am Harmonium in die Karwoche scheuchte: »Als Jesus von seiner Mutter ging und die große heilige Woche anfing«. An dem weißen Seidenband, mit dem Gertrud die Briefe ihres Bräutigams gebündelt hatte, ahne ich einen schwach süßlichen Geruch, den ich mir als ihr Jugend-Parfum vorstellen möchte.
    Kurt hätte ich gern gekannt – damals. Der Großvater konnte nämlich zaubern, was er zu meiner Zeit nicht mehr tat. Es gehen die Legenden in der Familie, wie er mit brennender Zigarre im Mund vom 5-Meter-Turm ins Halberstädter Sommerbad sprang und nach dem Auftauchen noch im Wasser munter weiterrauchte. Auf Gesellschaften in Hamburg und in London zauberte er Kaninchen aus dem Hut und ließ Uhren an Goldketten verschwinden.
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